Lesart

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Gegenüber einem Bezugstextstück anderslautende Textstelle geringeren Umfangs, die im Verlauf der Genese des Textes bzw. Werkes und/oder im Laufe seiner Überlieferungsgeschichte entstanden ist.

Forschungsbericht

Laut Grimm(1) „offenbar ein gelehrtenwort des 17. jahrh. für lat. lectio, wenigstens ist es in der 1. hälfte des 18. jahrh. bereits gewöhnlich“. Als frühester Beleg ist dort Bodmers und Breitingers Opitz-Ausgabe von 1745 genannt.

Das weite Verständnis im Sinne von autorisierten wie unautorisierten Abweichungen (vertreten etwa durch Woesler 2000, als Synonom für den weiten Begriff von Variante) kann sich auch auf die in den Editionen benutzten Termini für den textgenetischen Apparat stützen, der mindestens bis in die 1990er Jahre noch die Überschrift Lesarten auch bei der Darstellung der Textgenese von Werken neuerer Autoren tragen konnte. Es umfasst damit die gesamte Spannweite von Entstehungsvarianten und Überlieferungsvarianten bzw. Autorvarianten, autorisierten Varianten und Fremdvarianten.

Das engere Verständnis unterscheidet zwischen Varianten als vom Autor vorgenommenen bzw. von ihm autorisierten Textänderungen und Lesarten als ohne Beteiligung des Autors entstandenen Textänderungen. Unter Letztere fallen per se schon sämtliche nach dem Tod des Autors vorgenommene Änderungen, aber etwa auch diejenigen in den nicht unter Kontrolle und/oder mit Billigung des Autors zu seinen Lebzeiten entstandenen Abschriften und Drucken seines Textes. In diesem Sinne hat Siegfried Scheibe(2) primär nach dem Kriterium der Autorisation unterschieden: „Lesarten heißen Abweichungen in und zwischen unautorisierten Zeugen bzw. zwischen diesen Zeugen und autorisierten Zeugen oder dem Edierten Text. Sie bestehen aus Wörtern, Satzzeichen sowie aus Abweichungen der äußeren Form.“ Varianten dagegen sind nach Scheibe „Abweichungen in und zwischen autorisierten Zeugen bzw. zwischen diesen Zeugen und dem Edierten Text“, sie umfassen die gleichen Elemente wie die unter seiner Definition von Lesarten genannten.
Herbert Kraft beruft sich dagegen auf die Erläuterung in Grimms Deutschem Wörterbuch, das Lesart als „art, eine bestimmte textesstelle eines schriftstellers zu lesen“(3), bestimmt. Seine Differenzierung von Lesarten und Varianten gründet primär auf der Differenzierung von gleicher und differenter Fassung eines Textes, aus der sich unterschiedliche Konsequenzen für Textkritik und Textkonstitution ergeben: „So sind Lesarten Bestandteile desselben Textes, meistens in unterschiedlichen Überlieferungsträgern. Sie dokumentieren den Text an einer bestimmten Stelle, werden möglicherweise durch die editorische Interpretation zum edierten Text. Varianten dagegen sind Abweichungen einer anderen Fassung. Weil also Varianten, anders als Lesarten, nicht Bestandteile desselben, sondern eines anderen Textes sind, dürfen sie für die Textkonstituierung nicht verwendet werden“(4). Konsequenterweise und vorbildlos in der Editionspraxis heißt die Überschrift des fraglichen Abschnitts in der von Kraft mitherausgegebenen Revision des Bandes 5 der Schiller-Nationalausgabe entsprechend „Lesarten und Varianten“(5).

Mit Bezug auf neuere Literatur ist Lesart in der französischen critique génétique in den Rahmen der Lektüre und Transkription des handschriftlichen Textes gestellt und als „Ergebnis des Entzifferns“ definiert worden(6).

siehe auch

Literatur

  • Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm,. Bd. 6: L. M. Bearb. von Moriz Heyne, Leipzig 1885.
  • Grésillon, Almuth, Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell überarbeitet von Almuth Grésillon, Bern u. a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 4).
  • Kraft, Herbert, Editionsphilologie. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff, Frankfurt am Main u. a. 2001.
  • Nutt-Kofoth, Rüdiger, Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zum Problem der Synonyme in der neugermanistischen Editionsphilologie, in: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“, hg. von Gunter Martens, Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio. 36), S. 113–124.
  • Roloff, Hans-Gert, Zur Relevanz von Varianten und Lesarten, in: Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit, hg. von Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff und Ulrich Seelbach, Tübingen 1992 (Beihefte zu editio. 3), S. 2–14.
  • Scheibe, Siegfried, Editorische Grundmodelle, in: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie, hg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redaktion), Berlin 1991, S. 23–48.
  • Schillers Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers,. Band 5: Neue Ausgabe: Kabale und Liebe, Semele, Der versöhnte Menschenfeind, Körners Vormittag, hg. von Herbert Kraft, Claudia Pilling und Gert Vonhoff in Zusammenarbeit mit Grit Dommes und Diana Schilling, Weimar 2000.
  • Woesler, Winfried, Lesart, Variante, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hg. von Harald Fricke, Band 2: H–O, Berlin, New York 2000, S. 401–404.


Referenzen

(1) Deutsches Wörterbuch 1885, Sp. 771.
(2) 1991, S. 27.
(3) Grimm, Deutsches Wörterbuch 1885, Sp. 771.
(4) Kraft 2001, S. 48.
(5) Schiller-NA, Bd. 5 N, 2000, S. 388 u. ö.
(6) Grésillon 1999, S. 296.


nhr