Variante

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Ergebnis einer Veränderung eines Textes auf vielen verschiedenen Ebenen (Graphem-, Wort-, Satzteil-, Satz- und höhere Textebenen). Unter einer Autor- oder Entstehungsvariante versteht man eine Textveränderung durch den Autor selbst oder durch andere Personen, die von ihm beauftragt worden sind; in der Regel sind solche Varianten gewollt und intentional. Treten Varianten im Laufe der Überlieferung des Textes ohne Zutun des Autors auf (verantwortlich sind dann z. B. Abschreiber, Bearbeiter, Korrektor oder Setzer), spricht man von Überlieferungs- oder Fremdvarianten. Diese können, müssen aber nicht immer gewollt und intentional sein, es kann sich auch im engeren Sinne um Überlieferungsfehler (Hör-/Schreibfehler) handeln.

Explikation

Das Wort ist lateinischen Ursprungs. Das Nomen variatio bedeutet ‚Verschiedenheit‘. Das Verb variare kann transitiv und intransitiv verwendet werden und hat sowohl eine eigentliche als auch übertragene Bedeutung, unter anderem ‚bunt machen/sein‘, ‚vielfältig machen/sein‘, ‚anders machen/sein‘. Außer in der Natur begegnen Varianten vor allem bei Artefakten (Bauwerken, Gebrauchsgegenständen, Bildern, Skulpturen und eben Texten). In den mediengeschichtlichen Perioden der Handschriftlichkeit machen sich – synchron wie diachron – Varianten im Bereich der Graphie bemerkbar: So kann beispielsweise der Laut /f/ mit den Graphemen <f>, <v> oder <u> gekennzeichnet werden; für den /s/-Laut gibt es die Allographe <s>, Bein schaft-s d01.png und Bein sz d01.png; der Laut /a/ kann als <a> oder <cc> begegnen. Auf einer nächsthöheren Ebene können Wörter, Satzteile und ganze Sätze in einem Text variieren – dann kann man von unterschiedlichen Textfassungen sprechen, z. B.: Die Vöglein singen laut vs. Die Vögel singen laut vs. Die Amseln singen laut vs. Die Drosseln zwitschern schrill vs. Zwitschern die Drosseln schrill? etc. Solche Veränderungen können vom Autor des Textes selbst stammen und sind dann meist bewusst vorgenommen (oft aus ästhetischen, rhetorischen oder sachlichen Gründen). Besonders in Zeiten handschriftlicher Textüberlieferung können solche Varianten aber auch vom Autor losgelöst entstehen, sei es mit Kalkül, sei es eher zufällig und wenig intentional. Manche Varianten muss man auch als einfache Hör- oder Lese-/Schreibfehler ansehen, z. B.: Original: Süße vs. Abschreiber: Füße; wie oben dargestellt, kann im Mittelalter (und noch bis ins 19. Jh.) der /s/-Laut mit dem Graphem Bein schaft-s d01.png wiedergegeben werden, der dem Graphem <f> sehr ähnlich ist, was zu Verlesungen geradezu einlädt.

Varianten können lediglich punktuell auftreten (auf ein Wort oder ein kleineres Syntagma beschränkt – oft mit Synonym-Charakter) und verändern dann die Semantik des Kontextes nur marginal (Ausnahmen bestätigen die Regel). Varianten können aber auch weite Bereiche eines größeren Textes durchziehen und dann die Textsemantik stark beeinflussen. Besonders dann, wenn Plus- bzw. Minustext zu verzeichnen ist (z. B. Fassung A von Text X umfasst 100 Verse, Fassung B 80 und Fassung C 150), können sich die Grundintention eines Textes bzw. die Sinnangebote, die ein Text macht, erheblich verändern.

Forschungsbericht

Seit den Anfängen im frühen 19. Jahrhundert war es der Germanistik bewusst, dass, sobald ein Text in mehr als einer Handschrift überliefert ist, Varianten auftreten. Diese wurden indes wertend als ‚Fehler‘ angesehen und auch so bezeichnet. Die Grundüberzeugung dahinter war die, dass der autorisierte Urtext (Autortext) verloren und im Laufe verschiedener Abschreibprozesse mehr und mehr verfälscht worden sei. Die meisten Editoren (bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein) verstanden sich als ‚Anwälte‘ der Dichter und hatten den Anspruch, die überlieferten Texte von vorgeblich sekundären oder tertiären Veränderungen zu säubern.

Varianten (Fehler) spielten darüber hinaus aber immer auch eine eher formale Rolle in der sogenannten Stemmatologie. Textkritiker und Editoren waren und sind sehr daran interessiert, den Weg eines Textes zu seinem Autor zurückzuverfolgen und dabei die unterschiedlichen Überlieferungsstationen zeitlich und räumlich zu bestimmen. Die Erstellung eines Stammbaums gehörte seit den Anfängen der Editionswissenschaft zu einer der wichtigsten Aufgaben. Dabei kam und kommt es insbesondere darauf an, durch die Analyse von variierenden und nichtvariierenden Textstellen Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie mutmaßliche (stets verlorene) Quellen und Zwischenquellen im Laufe der Textgeschichte ausgesehen haben. Dabei spielten und spielen zwei Varianztypen eine wesentliche Rolle: a) die Bindevariante (früher: Bindefehler) und b) die Trennvariante (früher: Trennfehler). Der einflussreiche Literaturhistoriker und Editor Karl Stackmann hat daher das textkritische Geschäft als „Lehre von den Fehlern“ treffend bezeichnet. Stehen z. B. zwei identische Lesarten einer dritten abweichenden gegenüber, so spricht viel dafür, dass die beiden identischen Textfassungen auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Weisen hingegen Fassungen eines Textes sehr viele unterschiedliche Varianten auf, ist eher davon auszugehen, dass keine gemeinsame Vorstufe anzusetzen ist.

siehe auch

Literatur

  • Bein, Thomas, Die mediävistische Edition und ihre Methoden. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 81-98.
  • Bein, Thomas, Textvarianz, Editionspraxis, Interpretation - Überlegungen zur veränderten Mittelalterphilologie, in: Bodo Plachta und H.T.M. van Vliet, Hgg., Perspectives of Scholarly Editing. Perspektiven der Textedition, Berlin 2002, S. 63-80.
  • Cerquiglini, Bernhard, Éloge de la variante, Paris 1989.
  • Jansohn, Christa und Bodo Plachta, Hgg., Varianten – Variants – Variantes., Tübingen 2005.
  • Martens, Gunter und und Hans Zeller, Hgg., Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München 1971.
  • Polheim, Karl Konrad, Der Textfehler. Begriff und Problem, in: editio 5, 1991, S. 38-54.
  • Stackmann, Karl, Mittelalterliche Texte als Aufgabe, in: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag, hg. von William Foerste und Karl Heinz Borck, Köln und Graz 1964, S. 240-267.

Webressourcen


bnt