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Aktuelle Version vom 5. Februar 2018, 23:22 Uhr
Eduard Berend ist der Begründer der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition. Berend legte damit das Fundament für die wissenschaftliche Erforschung Jean Pauls unter den besonders schwierigen Umständen der Juden- wie Wissenschaftsfeindlichkeit der Zeit des Nationalsozialismus.
Explikation
Berends Jean-Paul-Ausgabe
Die Jean-Paul-Edition stellte Berend vor viele Herausforderungen, von der komplexen Werkgenese und den schwer entzifferbaren Handschriften über die Fehlerhaftigkeit der Drucke bis hin zu Jean Pauls eigenwilliger Sprache und Orthografie. Berends Leistung bestand in der Entwicklung, Umsetzung und Verteidigung philologisch präziser, objektiver und überprüfbarer Kriterien, mit denen das veröffentlichte Werk (Abteilung I), der Nachlass (Abteilung II) sowie die Briefe Jean Pauls (Abteilung III) editorisch erschlossen werden sollten. Dabei begründete Berend die editorische Anordnung der Texte und die darzubietende Textgestalt genau. Seine Methodik war pragmatisch, nicht programmtisch; sie galt der „Eigenart“(3) ihres Gegenstands, nicht dem „Schema“(4) einer Theorie. Dem Autor gerecht zu werden, nicht „feste[n] Grundsätze[n]“,(5) bedeutete für Berend, den Blick nicht auf das „unanfechtbare Ideal einer historisch-kritischen Gesamtausgabe“(6) zu richten, sondern auf das Material selbst, das er, einschließlich des umfangreichen und damals annähernd unbekannten Nachlasses, vorzüglich kannte. Von diesem ausgehend bestimmte und begründete er seine Richtlinien, vor allem eine Textkritik, die philologisch sorgfältig, aber gerade aufgrund ihrer Sorgfalt dem Gegenstand gegenüber im Einzelfall kompromißbereit war, um dessen Besonderheit Rechnung zu tragen.(7) Der Zeit entsprechend orientierte Berend sich am (offensichtlichen oder zu erschließenden) Autorwillen. Zu dieser Haltung gehörte die grundsätzlich werkteleologische Betrachtungsweise des jeanpaulschen OEvres. Sichtbarste Zeichen dieser editorischen Auffassung sind erstens die Entscheidung, die Abteilung I „Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke“ als Ausgabe Letzter Hand anzulegen(8) (allerdings mit der Darstellung der Textgenese in Form eines Variantenapparats, der die Versionen der Handschriften und früheren Druckauflagen dokumentieren sollte)(9) und zweitens das Votum, die heterogene Orthografie der Originaldrucke nach Möglichkeit durchgängig durch die in den Handschriften nachgewiesenen Schreibweisen des alten Jean Paul zu ersetzen.(10) Primat der Edition war für Berend jedoch weder die Autorintention noch die Idee, die „künstlerische Entwicklung des Dichters rein vorzuführen“,(11) sondern wissenschaftliche Objektivität; eine Haltung, die nicht nur in Berends Selbstverständnis als befundorientierter Philologe, sondern auch in seiner vom Positivismus beeinflußten Grundeinstellung(12) wurzelte.
Chronologie als Ordnungsprinzip
Deshalb folgte er auch nicht Jean Pauls eigenen Plänen für eine Gesamtausgabe, sondern ordnete die Editionsbände im Wesentlichen nach der Chronologie der Originale, da nur so der Charakter der Verflechtung von empfindsamen und satirischen Textteilen sowie der intertextuellen genetischen Bezüge zwischen den Werken gewahrt werde.(13) Bei der Abteilung II „Nachlaß“ plädierte Berend angesichts der schieren Masse an Material entgegen dem Vollständigkeitsprinzip historisch-kritischer Ausgaben für eine Auswahl,(14) die insbesondere vom „Kriterium des Schöpferischen“ geleitet sein sollte.(15) Die handschriftlichen Vorarbeiten zum veröffentlichten Werk waren nicht selbst zu edieren, sondern vom Herausgeber in den Bandvorworten darzustellen und ggf. auszugsweise zu zitieren.(16) Es handelte sich in erster Linie um pragmatische Entscheidungen, denn die Einrichtung einer gewichtigen eigenen Abteilung für den Nachlass und Berends Aussagen in den „Prolegomena“ zeugen von seinem Bewusstsein für die Bedeutung der Handschriften.(17) Gleichwohl zeigen die Äusserungen in den „Prolegomena“ sowie die Behandlung der Vorarbeiten (die der Editor sichtet und für die Leser auswertet) die Tendenz, die Entwicklung der Texte(18) vorwiegend als Entwicklung des Autors zu perspektivieren. Von der grundsätzlich werkteleologisch orientierten Einstellung abgesehen gehörte es zu Berends Objektivitätsbegriff, sich in den Vorworten der Wertungen und Interpretationen zu enthalten.(19) Überhaupt hatte hinter der Darstellung des Gegenstands jede persönlich gefärbte Betrachtung und subjektive Sichtweise zurückzustehen. Den „Dichter“ seinen Lesern zu erschließen, bedeutete allerdings, mit Hilfe von Edition lesbare Texte darzubieten, nicht das – in Jean Pauls Textwerkstatt häufige – Unfertige; für Berend schloss dies in Ausnahmefällen auch Eingriffe des Herausgebers nicht aus, wie Konjekturen(20) oder die Entscheidung des Editors für eine Variante des Handschriftentextes an solchen Stellen, an denen der Autor Alternativformulierungen unentschieden beieinander notiert(21) (die heutige Edition dokumentiert hier die Offenheit der Texte). Einen umfassenden Werkkommentar zu verfassen, lehnte Berend aufgrund der gerade bei diesem Autor offenkundigen Uferlosigkeit der Aufgabe ab,(22) vielmehr habe man sich darauf zu beschränken, „dem Leser alles zum unmittelbaren Verständnis des Textes Erforderliche an die Hand zu geben“,(23) am besten anhand eines Jean-Paul-Lexikons.(24)
Edieren im Nationalsozialismus
Berend beschrieb hier nicht nur seine Editionsprinzipien, sondern berichtete auch über die Vorgeschichte der Ausgabe und die vorausgegangene Fachdiskussion, über die überlieferten Ausgaben und Jean Pauls Pläne zu einer Gesamtausgabe sowie über den Charakter der Jean-Paul-Handschriften (einschließlich einer Darstellung von Jean Pauls eigenwilliger Orthografie). Trotz seiner in Fachkreisen unbestrittenen Kompetenz als Philologe scheiterten drei Habilitationsversuche (in Tübingen, Frankfurt und Freiburg) aufgrund hochschulintern begründeter Zurückweisungen, mutmaßlich auch aufgrund von Diskriminierung. Unter persönlicher Entbehrung und zunehmender Lebensgefahr hielt Berend, seinem Ethos entsprechend, bis zu seiner Verhaftung an der Fortführung seiner Jean-Paul-Edition fest (auf deren Titelblättern er ab 1934 nicht mehr als Herausgeber sichtbar werden durfte). An der Akademie schützte Petersen Berend, bis Berend 1938 entlassen und im November für einige Wochen nach Sachsenhausen deportiert wurde. Während seines ab Ende 1939 bestehenden Schweizer Exils setzte Berend, der 1941 enteignet wurde, unter äußerst einfachen Lebensbedingungen und ohne Arbeitserlaubnis seine Jean-Paul-Briefedition (Abteilung III) privat fort und konnte die Arbeit an der Gesamtausgabe erst 1948 im Auftrag der neugegründeten Deutschen Akademie der Wissenschaften offiziell wiederaufnehmen. 1957 kehrte er auf Einladung des Deutschen Literaturarchivs Marbach nach Deutschland zurück und arbeitete in Marbach, wo bis heute Berends Nachlass und sein Jean-Paul-Archiv verwahrt werden. Berend, der in der Bundesrepublik eine Reihe von Ehrungen erhielt (u. a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und einen Professorentitel des Landes Baden-Württemberg), starb am 23.9.1973 in Ludwigsburg.
Berends Lebenswerk
Literatur
- Berend, Eduard, Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1927.
- Knickmann, Hanne, Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883-1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teil 1, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 29 (1994), S. 7-91; Teil 2, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 30 (1995), S. 7-104.
- Knickmann, Hanne, Eduard Berend (1883-1973), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke, Berlin und New York 2000, S. 176-179.
- Knickmann, Hanne, Eduard Berend, in: Internationales Germanistenlexikon (1800-1950), hg. von Christoph König. Berlin und New York 2003, S. 140-142.
- Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, hg. von Archiv Bibliographia Judaica e. V., Band 2, redaktionelle Leitung Renate Heuer unter Mitarbeit von Andrea Boelke et al., München 1993, S. 124-136.
Referenzen
↑ (1) Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet und hg. von Eduard Berend (Unter der Hauptherausgeberschaft zunächst der Preußischen Akademie der Wissenschaften, später der Deutschen Akademie der Wissenschaften), Weimar 1927ff. (ab 1952 Erscheinungsort: Berlin). Ganz zu Beginn mit unterstützt von der Jean-Paul-Gesellschaft.
↑ (2) Vgl. Hanne Knickmann, Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883-1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teil 1. in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 29 (1994), S. 7-91, hier S. 76f.
↑ (3) Eduard Berend, Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1927, S. 1.
↑ (4) Ebd.
↑ (5) Ebd.
↑ (6) Ebd. S. 43.
↑ (7) Vgl. ebd. und passim.
↑ (8) Vgl. ebd. S. 27f.
↑ (9) Vgl. ebd. S. 38.
↑ (10) Vgl. ebd. S. 34.
↑ (11) Ebd. S. 15.
↑ (12) Eine genaue Analyse von Berends wissenschaftsgeschichtlichem Horizont bieten die Untersuchungen von Hanne Knickmann, vgl. die Angaben im Literaturverzeichnis.
↑ (13) Vgl. Berend, Prolegomena, S. 14ff.
↑ (14) Vgl. ebd. S. 16, 21.
↑ (15) Ebd. S. 23, vgl. außerdem ebd. S. 20f.
↑ (16) Vgl. ebd. S. 24.
↑ (17) Vgl. ebd. S. 16, 18ff.
↑ (18) Berends Interesse für die Werkgeschichte ist vielfach bemerkbar, etwa auch in der Äußerung, wollte man die „künstlerische Entwicklung des Dichters rein vor[]führen, dann müßten notwendig die Werke in ihrer ersten Fassung gegeben werden“. Ebd. S.15.
↑ (19) Vgl. ebd. S. 41.
↑ (20) Vgl. ebd. S. 30.
↑ (21) Vgl. ebd. S 28.
↑ (22) Vgl. ebd. S. 41.
↑ (23) Ebd.
↑ (24) Vgl. ebd. S. 42.
↑ (25) Ebd. S. 43.
↑ (26) Vgl. Hanne Knickmann, Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883-1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teil 1; Teil 2, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 30 (1995), S. 7-104; Dies., Eduard Berend (1883-1973), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke, Berlin und New York 2000, S. 176-179; Dies., Eduard Berend, in: Internationales Germanistenlexikon (1800-1950), hg. von Christoph König, Berlin und New York 2003, S. 140-142.
↑ (27) Zu Berends Biographie vgl. die drei bereits genannten Publikationen von Hanne Knickmann sowie das Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, hg. von Archiv Bibliographia Judaica e. V., Band 2, redaktionelle Leitung: Renate Heuer unter Mitarbeit von Andrea Boelke et al., München 1993, S. 124-136.
↑ (28) Jean Paul, Sämtliche Werke. 10 Bände. 1. Abteilung, hg. von Norbert Miller; Abteilung II, hg. von Norbert Miller und (mit Ausnahme des Bandes 3) Wilhelm Schmidt-Biggemann, München 1959ff.
↑ (29) Jean Paul, Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Helmut Pfotenhauer und Barbara Hunfeld, Berlin 2009ff. (Zunächst bei Niemeyer, dann bei De Gruyter).
↑ (30) Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet und herausgegeben von Eduard Berend. Abteilung IV: Briefe an Jean Paul, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Christian Begemann, Markus Bernauer und Norbert Miller, Berlin 2003ff.