Genetische Edition: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 5. Februar 2018, 20:16 Uhr
Eine genetische Edition ist eine Ausgabe, die den Entstehungsprozess eines literarischen Werkes oder Textes rekonstruiert und für den Leser nachvollziehbar macht. Ziel ist die (weitgehende) Rekonstruktion einer chronologischen Reihenfolge von Änderungen bei häufig gleichzeitiger typologischer Klassifikation der Änderungen (etwa Sofortänderung, Spätänderung; Tilgung, Ergänzung, Ersetzung, Umstellung) in einem Text oder Werk. Im engen Begriffsverständnis handelt es sich um eine nur auf die entstehungsgeschichtlichen Aspekte des Werkes ausgerichtete Editionsform, im weiteren Verständnis bildet diese Art der textgenetischen Darstellung einen immanenten Teil der Darstellungspraktiken einer historisch-kritischen Edition. Zur Voraussetzung hat sie eine komplexe Überlieferungslage mit textkritisch relevanten Änderungen. In ihrer Konzentration auf den Entstehungsprozess geht sie über den üblichen Charakter des Dokumentierens von Varianten eines Textes oder Werkes deutlich hinaus.
Explikation
Die im Kontext von Editionen verwendete Metapher der Genese stammt aus der Biologie und bezieht sich auf das Wachstum von Text(en). Ihre Bedeutung und Gebrauch sind von folgenden Variablen abhängig:
1. Forschungsgegenstand
Entweder liegt das Forschungsinteresse tendenziell vorrangig auf dem Autor und dessen kreativen Schreibprozessen (critique génétique), die sich anhand von Schreibspuren rekonstruieren lassen, oder auf der Veränderung der Texte selbst (historisch-kritische Edition). Im zweiten Fall wird oft, aber nicht zwingend, ein edierter Text (Lesetext) in seiner vorläufig ‚endgültigen‘ Form geboten.
2. Perspektive
3. Granularität
4. Textbegriff
Forschungsbericht
Fest etabliert wurde der Begriff der textgenetischen Edition durch den von Gunter Martens und Hans Zeller im Jahr 1998 herausgegebenen gleichnamigen Sammelband,(8) in welchem Berichte zu damaligen (laufenden wie auch abgeschlossenen) Editionsprojekten zu finden sind, die sich durchaus als genetisch verstehen, aber nicht immer explizit als solche bezeichnet wurden.(9) Als Meilenstein für die Theoretisierung einer genetischen Edition muss man allerdings vielmehr das Jahr 1971 mit dem von Gunter Martens und Hans Zeller herausgegebenen Sammelband Texte und Varianten anführen: Das hierin von Martens entwickelte dynamische Textmodell(10) versteht Text als summarische und nicht als statische Größe, indem alle Varianten in ihren Verhältnissen zueinander als Teil des Textes betrachtet werden. Die Genese ist „tendenziell […] niemals abgeschlossen“.(11) Die Wiedergabe eines Textes in einer Edition wird gewissermaßen als „durch äußere Gegebenheiten“ erzwungener Abschluss bewertet.(12) Henning Boetius gelingt im selben Band mit der Unterscheidung der Korrekturen in Sofort-, Bald- und Spätkorrekturen eine Differenzierung, die neue Maßstäbe in der Variantenein- und -anordnung schafft.(13) Beide – Martens wie Boetius – beziehen sich in ihrer Argumentation auf den eigentlichen, ‚geistigen‘ Vater der genetischen Edition: Reinhold Backmann. 1924 entwickelt dieser eine Theorie einer Werkgeschichte, die „den natürlichen Entwicklungsverlauf“(14) berücksichtigt. Die Hauptaufgabe des Variantenapparats liegt für Backmann in der „Betonung der Anfangsgestalt“ und steht damit konträr zur „Betonung der letzten Gestalt in den Textdrucken“. Damit hält Backmann zwar bezüglich der Textwiedergabe an der Konstruktion eines ‚endgültigen‘, finalen Textes fest und bleibt auf dieser Ebene dem etablierten teleologischen Prinzip verpflichtet, aber – und das ist neu und bahnbrechend – er bringt mit der Aufwertung der Varianten als Zeugen einer Entwicklungsgeschichte, deren Chronologie es zu rekonstruieren gilt, eine organologische Sichtweise gleichberechtigt in die Edition hinein. Man kann in diesem Kontext daher zu Recht vom eigentlichen Beginn der genetischen Edition sprechen. Nicht zu unterschätzen hinsichtlich seiner ‚Vorarbeiten‘ für die Theoriebildung einer genetischen Edition ist Friedrich Beißner. Trotz vielfacher und scharfer Kritik an seinem für die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1946–85) entwickelten Stufenapparat wurde genau dieser, nur eben ohne die Intention einer finalen, idealisierten Textstufe, für eine genetische Apparatgestaltung fruchtbar gemacht.(15)
Parallel zur Entwicklung in der deutschsprachigen Editionslandschaft seit den 1970er Jahren hat sich in Frankreich mit der critique génétique eine Methode etabliert, bei der die Genese von Texten und literarischen Werken als Schreibszenarien in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt ist. Wichtige Impulse im Umgang mit Handschriften und Drucken als Trägern von Schreibprozessen sind von Paris ausgegangen und wurden von der deutschsprachigen Editionslandschaft aufgenommen. Eine kontinuierliche Annäherung beider Traditionen ist gegenwärtig zu beobachten.
Siehe auch
Literatur
- Backmann, Reinhold, Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter (Mit besonderer Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien), in: Euphorion 25 (1924), S. 629–662.
- Beißner, Friedrich, Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, in: Ders., Hölderlin. Reden und Aufsätze, Weimar 1961, S. 251–265.
- Boetius, Henning, Textqualität und Apparatgestaltung, in: Martens, Gunter und Hans Zeller (Hg.), Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München: C. H. Beck 1971, S. 233–250.
- Bohnenkamp, Anne et. al., Perspektiven auf Goethes ‚Faust‘. Werkstattbericht der historisch-kritischen Hybridedition, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2011 (2012), S. 23–67.
- Heym, Georg, Gedichte 1910–1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung, hg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider, 2 Bde., Tübingen: Niemeyer 1993.
- Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe‘. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von D. E. Sattler, Frankfurt am Main und Basel: Roter Stern 1976–2008.
- Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck, 8 Bde. Stuttgart: Cotta 1946–1985.
- Martens, Gunter, Dichterisches Schreiben als editorische Herausforderung. Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Textdarstellung in historisch-kritischen Ausgaben, in: Hans Zeller und Gunter Martens (Hg.), Textgenetische Edition, Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 103–116.
- Martens, Gunter, Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen, in: Ders. und Hans Zeller (Hg.), Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München: C. H. Beck 1971, S. 165–201.
- Nutt-Kofoth, Rüdiger, Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37/1 (2005), S. 97–122.
- Pravida, Dietmar, ‚Ideales Wachstum‘. Zu einer Denkfigur der klassischen neugermanistischen Editionswissenschaft, in: Anne Bohnenkamp et. al. (Hg.), Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie, Göttingen: Wallstein 2010, S. 180–190.
- Trakl, Georg, Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina, 6 Bde. in 8 und 2 Suppl.-Bde, Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995–2014.
- Zeller, Hans, Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert, in: Roloff, Hans-Gert (Hg.), Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung, Berlin: Weidler 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 5), S. 143–207.
- Zeller, Hans und Gunter Martens (Hg.), Textgenetische Edition, Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio. 10).
Webressourcen
- Les manuscrits de Madame Bovary. Edition intégrale sur leb web, http://www.bovary.fr/.
- P5: Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange, Version 3.3.0, Letztes Update erfolgte am 31. Januar 2018, revision f4d8439: http://www.tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/.