XBerend, Eduard (1883-1973)
Eduard Berend (1883-1973) ist der Begründer der historisch-kritischen Jean-Paul-Edition. Berend legte damit das Fundament für die wissenschaftliche Erforschung Jean Pauls (1763-1825) unter den besonders schwierigen Umständen der Juden- wie Wissenschaftsfeindlichkeit der Zeit des Nationalsozialismus.
Explikation
Mit dem deutsch-jüdischen Philologen Eduard Berend beginnt die Geschichte der Jean-Paul-Edition (die bis heute nicht abgeschlossen ist) und damit zugleich die Aufarbeitung eines der umfangreichsten Klassikernachlässe der deutschen Literatur. Die Wahrnehmung von Jean Paul als Klassiker hat wesentlich mit Berends Jean-Paul-Ausgabe zu tun. Ihr wissenschaftlicher Anspruch eröffnete eine neue, umfassende und objektive Sicht auf Jean Paul jenseits der Funktionalisierungen des Autors im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (als Bonmot-Dichter, als Inspirationsquelle symbolistischer „Blütenlesen“, als „Volksdichter“). Die Jean-Paul-Edition stellte Berend vor viele Herausforderungen, von der komplexen Werkgenese und den schwer entzifferbaren Handschriften über die Fehlerhaftigkeit der Drucke bis hin zu Jean Pauls eigenwilliger Sprache und Orthografie. Berends Leistung bestand in der Entwicklung, Umsetzung und Verteidigung philologisch präziser, objektiver und überprüfbarer Kriterien, mit denen das veröffentlichte Werk (Abteilung I), der Nachlaß (Abteilung II) sowie die Briefe Jean Pauls (Abteilung III) editorisch erschlossen werden sollten. Dabei begründete Berend die editorische Anordnung der Texte und die darzubietende Textgestalt genau. Seine Methodik war pragmatisch, nicht programmatisch; sie galt der „Eigenart“ ihres Gegenstands, nicht dem „Schema“ einer Theorie. Dem Autor gerecht zu werden, nicht „feste[n] Grundsätze[n]“ , bedeutete für Berend, den Blick nicht auf das „unanfechtbare Ideal einer historisch-kritischen Gesamtausgabe“ zu richten, sondern auf das Material selbst, das er, einschließlich des umfangreichen und damals annähernd unbekannten Nachlasses, vorzüglich kannte. Von diesem ausgehend bestimmte und begründete er seine Richtlinien, vor allem eine Textkritik, die philologisch sorgfältig, aber gerade aufgrund ihrer Sorgfalt dem Gegenstand gegenüber im Einzelfall kompromissbereit war, um dessen Besonderheit Rechnung zu tragen. Der Zeit entsprechend orientierte Berend sich am (offensichtlichen oder zu erschließenden) Autorwillen. Zu dieser Haltung gehörte die grundsätzlich werkteleologische Betrachtungsweise des Jean Paulschen Oeuvres. Sichtbarste Zeichen dieser editorischen Auffassung sind erstens die Entscheidung, die Abteilung I „Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke“ als Ausgabe Letzter Hand anzulegen (allerdings mit der Darstellung der Textgenese in Form eines Variantenapparats, der die Versionen der Handschriften und früheren Druckauflagen dokumentieren sollte) und zweitens das Votum, die heterogene Orthografie der Originaldrucke nach Möglichkeit durchgängig durch die in den Handschriften nachgewiesenen Schreibweisen des alten Jean Paul zu ersetzen. Primat der Edition war für Berend jedoch weder die Autorintention noch die Idee, die „künstlerische Entwicklung des Dichters rein vorzuführen“, sondern wissenschaftliche Objektivität; eine Haltung, die nicht nur in Berends Selbstverständnis als befundorientierter Philologe, sondern auch in seiner vom Positivismus beeinflussten Grundeinstellung wurzelte. Deshalb folgte er auch nicht Jean Pauls eigenen Plänen für eine Gesamtausgabe, sondern ordnete die Editionsbände im Wesentlichen nach der Chronologie der Originale, da nur so der Charakter der Verflechtung von empfindsamen und satirischen Textteilen sowie der intertextuellen genetischen Bezüge zwischen den Werken gewahrt werde. Bei der Abteilung II „Nachlaß“ plädierte Berend angesichts der schieren Masse an Material entgegen dem Vollständigkeitsprinzip historisch-kritischer Ausgaben für eine Auswahl, die insbesondere vom „Kriterium des Schöpferischen“ geleitet sein sollte. Die handschriftlichen Vorarbeiten zum veröffentlichten Werk waren nicht selbst zu edieren, sondern vom Herausgeber in den Bandvorworten darzustellen und ggf. auszugsweise zu zitieren. Es handelte sich in erster Linie um pragmatische Entscheidungen, denn die Einrichtung einer gewichtigen eigenen Abteilung für den Nachlass und Berends Aussagen in den „Prolegomena“ zeugen von seinem Bewusstsein für die Bedeutung der Handschriften. Gleichwohl zeigen die Äußerungen in den „Prolegomena“ sowie die Behandlung der Vorarbeiten (die der Editor sichtet und für die Leser auswertet) die Tendenz, die Entwicklung der Texte vorwiegend als Entwicklung des Autors zu perspektivieren. Von der grundsätzlich werkteleologisch orientierten Einstellung abgesehen gehörte es zu Berends Objektivitätsbegriff, sich in den Vorworten der Wertungen und Interpretationen zu enthalten. Überhaupt hatte hinter der Darstellung des Gegenstands jede persönlich gefärbte Betrachtung und subjektive Sichtweise zurückzustehen. Den „Dichter“ seinen Lesern zu erschließen, bedeutete allerdings, mit Hilfe von Edition lesbare Texte darzubieten, nicht das – in Jean Pauls Textwerkstatt häufige – Unfertige; für Berend schloss dies in Ausnahmefällen auch Eingriffe des Herausgebers nicht aus, wie Konjekturen oder die Entscheidung des Editors für eine Variante des Handschriftentextes an solchen Stellen, an denen der Autor Alternativformulierungen unentschieden beieinander notiert (die heutige Edition dokumentiert hier die Offenheit der Texte). Einen umfassenden Werkkommentar zu verfassen, lehnte Berend aufgrund der gerade bei diesem Autor offenkundigen Uferlosigkeit der Aufgabe ab, vielmehr habe man sich darauf zu beschränken, „dem Leser alles zum unmittelbaren Verständnis des Textes Erforderliche an die Hand zu geben“, am besten anhand eines Jean-Paul-Lexikons. Die Bände der Abteilung I erschienen schließlich mit ausgewählten und bewusst kargen, aber präzisen Einzelstellenerläuterungen. Die Forderung, den Quellen der Jean Paulschen Exzerpte nachzugehen, begegnete Berend mit dem Hinweis, dass es bei der „Eigenart der Jean Paulschen Exzerptenweisheit […] weniger auf das Was und Woher als auf das Wie der Verwendung“ ankomme. Heute gilt Jean Paul als Paradebeispiel für ein sich zahllose Quelltexte eigenwillig anverwandelndes, seiner Anlage nach unabschließbares Schreiben als Work in progress, als dessen zeitweilige Konfigurationen die Fassungen der Werke, vom Kontext der Textwerkstatt kaum zu trennen, verstehbar sind. Vor dem Hintergrund einer Zeit, deren Interesse überwiegend der Konstitution des vollendeten Dichters aus dem vollendeten Werk galt, sind Berends unideologisch-offene Haltung der Jean Paulschen Textwerkstatt gegenüber sowie sein Verständnis der Besonderheit des Jean Paulschen Schreibprozesses hervorzuheben. Berends Jean-Paul-Ausgabe entstand ab 1927 als Projekt der Preußischen Akademie der Wissenschaften (in Verbindung mit der Deutschen Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums), für die Berend bis 1938 als Privatgelehrter im Rahmen von Werkverträgen tätig war. Trotz der zeitweiligen Unterstützung durch zwei Mitarbeiter (Hans Bach und Kurt Schreinert) und der späteren Eingriffe weiterer Bearbeiter aufgrund von Berends Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus war die Berendsche Ausgabe im Wesentlichen ein Ein-Mann-Unternehmen, das von Berends Energie getragen wurde. Hanne Knickmann hat in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Studien zu Eduard Berend gezeigt, dass Berend dabei in dreifacher Hinsicht einem schwierigen, ja zunehmend lebensbedrohlichen Umfeld ausgesetzt war: erstens als nicht im universitären Betrieb etablierter Privatgelehrter, der immer wieder trotz seiner Leistungen an den Rand gedrängt und um Ansehen, ja Sichtbarkeit als Wissenschaftler betrogen wurde; zweitens als unbestechlicher und integrer Vertreter objektiver Wissenschaft, jahrelang den Anfeindungen von Kollegen und Konkurrenten ausgesetzt, die Jean Paul, wie etwa Josef Müller, für eine völkische Ideologie in Dienst zu nehmen versuchten; drittens als deutscher Jude, der, obwohl als Veteran des Ersten Weltkriegs ausgezeichnet, verfolgt, enteignet, kurzzeitig sogar im Konzentrationslager interniert und zur Flucht ins Schweizer Exil gezwungen wurde. Zuvor war Berend bereits aus der von ihm mitbegründeten und später gleichgeschalteten Jean-Paul-Gesellschaft gedrängt worden. Lange vor Beginn der Jean-Paul-Ausgabe hatte Berend sich bereits einen Namen als bedeutender Jean-Paul-Experte gemacht. Nachdem er, am 5.12.1883 in Hannover geboren und aus assimiliertem jüdischen Elternhaus stammend, bei dem Lessing-Miteditor Franz Muncker studiert hatte, war er im Rahmen seiner Dissertation zu „Jean Pauls Verhältnis zu den literarischen Parteien seiner Zeit“ schon 1907 mit einer Studie zu Jean Paul in Erscheinung getreten (1909 unter dem Titel „Jean Pauls Ästhetik“ publiziert) und hatte erste editorische Erfahrungen als Herausgeber einer 1908 erschienenen sechsbändigen Tieck-Edition gesammelt. Mit der Edition von Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“ wurde er 1910 erstmals als Jean-Paul-Herausgeber bekannt. Aus der gemeinsam mit Karl Freye unternommenen Sichtung des gewaltigen Jean-Paul-Nachlasses in der Staatsbibliothek zu Berlin ging die 1913 erstpublizierte Sammlung „Jean Pauls Persönlichkeit. Zeitgenössische Berichte“ hervor. Schon 1914 unterbreitete Berend, mit Unterstützung vor allem von Julius Petersen, der später sein langjähriger Fürsprecher bei der Akademie werden sollte, der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen ersten Plan zu einer Jean-Paul-Gesamtausgabe, dessen Umsetzung aber vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereitelt wurde. Nach Ende des Kriegs, in dem Berend Frontkämpfer war, edierte Berend zunächst Jean Pauls Briefe in einer eigenen Ausgabe; zudem erschien 1925 seine „Jean-Paul-Biographie“. Berend war also ein umfassend erfahrener Fachmann, als er 1927 seine „Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken“ vorlegte. Berend beschrieb hier nicht nur seine Editionsprinzipien, sondern berichtete auch über die Vorgeschichte der Ausgabe und die vorausgegangene Fachdiskussion, über die überlieferten Ausgaben und Jean Pauls Pläne zu einer Gesamtausgabe sowie über den Charakter der Jean-Paul-Handschriften (einschließlich einer Darstellung von Jean Pauls eigenwilliger Orthografie). Trotz seiner in Fachkreisen unbestrittenen Kompetenz als Philologe scheiterten drei Habilitationsversuche (in Tübingen, Frankfurt und Freiburg) aufgrund hochschulintern begründeter Zurückweisungen, mutmaßlich auch aufgrund von Diskriminierung. Unter persönlicher Entbehrung und zunehmender Lebensgefahr hielt Berend, seinem Ethos entsprechend, bis zu seiner Verhaftung an der Fortführung seiner Jean-Paul-Edition fest (auf deren Titelblättern er ab 1934 nicht mehr als Herausgeber sichtbar werden durfte). An der Akademie schützte Petersen Berend, bis Berend 1938 entlassen und im November für einige Wochen nach Sachsenhausen deportiert wurde. Während seines ab Ende 1939 bestehenden Schweizer Exils setzte Berend, der 1941 enteignet wurde, unter äußerst einfachen Lebensbedingungen und ohne Arbeitserlaubnis seine Jean-Paul-Briefedition (Abteilung III) privat fort und konnte die Arbeit an der Gesamtausgabe erst 1948 im Auftrag der neugegründeten Deutschen Akademie der Wissenschaften offiziell wiederaufnehmen. 1957 kehrte er auf Einladung des Deutschen Literaturarchivs Marbach nach Deutschland zurück und arbeitete in Marbach, wo bis heute Berends Nachlass und sein Jean-Paul-Archiv verwahrt werden. Berend, der in der Bundesrepublik eine Reihe von Ehrungen erhielt (u. a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und einen Professorentitel des Landes Baden-Württemberg), starb am 23.9.1973 in Ludwigsburg. Berends Lebenswerk einer historisch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe blieb unvollständig, erstens, da eine Gesamtausgabe aufgrund der Textfülle von ihm (und seinen wenigen Mitstreitern) nicht zu leisten war, zweitens aber, da er als deutscher Jude von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Die von ihm in einem jahrelangen Prozess dokumentierten Varianten, die in eigenen Lesartenbänden erscheinen sollten, gingen größtenteils verloren. Den Jean-Paul-Lesern ist Berends Ausgabe insbesondere über die von Norbert Miller herausgegebene, vielfach zitierte Studienausgabe bekannt, die sich im Wesentlichen auf Berends Textkonstitution stützt und Berends Erläuterungen ergänzt und erweitert. Heute wird im Rahmen einer neuen, textgenetisch orientierten historisch-kritischen Ausgabe weiter an der Edition von Jean Pauls Werken gearbeitet. Darüber hinaus wurde Berends Abteilung II „Nachlaß“ nach seinem Tod von verschiedenen Bandbearbeitern weitergeführt und seiner Abteilung III „Briefe“ eine Abteilung IV „Briefe an Jean Paul“ hinzugefügt.
Literatur
- Berend, Eduard, Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Verlag der Akademie 1927.
- Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, hg. v. Archiv Bibliographia Judaica e. V., Band 2. Redaktionelle Leitung: Renate Heuer unter Mitarbeit von Andrea Boelke u. a., München/New Providence/London/Paris: K. G. Saur 1993, S. 124-136.
- Knickmann, Hanne, Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend (1883-1973). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teil 1, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 29 (1994), S. 7-91; Teil 2, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 30 (1995), S. 7-104.
- Knickmann, Hanne, Eduard Berend (1883-1973), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. v. Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 176-179.
- Knickmann, Hanne, Eduard Berend, in: Internationales Germanistenlexikon (1800-1950), hg. v. Christoph König, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 140-142.