Genetische Edition

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Eine genetische Edition ist eine Ausgabe, die den Entstehungsprozess eines literarischen Werkes oder Textes rekonstruiert und für den Leser nachvollziehbar macht. Ziel ist die (weitgehende) Rekonstruktion einer chronologischen Reihenfolge von Änderungen bei häufig gleichzeitiger typologischer Klassifikation der Änderungen (etwa Sofortänderung, Spätänderung; Tilgung, Ergänzung, Ersetzung, Umstellung) in einem Text oder Werk. Im engen Begriffsverständnis handelt es sich um eine nur auf die entstehungsgeschichtlichen Aspekte des Werkes ausgerichtete Editionsform, im weiteren Verständnis bildet diese Art der textgenetischen Darstellung einen immanenten Teil der Darstellungspraktiken einer historisch-kritischen Edition. Zur Voraussetzung hat sie eine komplexe Überlieferungslage mit textkritisch relevanten Änderungen. In ihrer Konzentration auf den Entstehungsprozess geht sie über den üblichen Charakter des Dokumentierens von Varianten eines Textes oder Werkes deutlich hinaus.


Explikation

Die im Kontext von Editionen verwendete Metapher der Genese stammt aus der Biologie und bezieht sich auf das Wachstum von Text(en). Ihre Bedeutung und Gebrauch sind von folgenden Variablen abhängig:

1. Forschungsgegenstand

Entweder liegt das Forschungsinteresse tendenziell vorrangig auf dem Autor und dessen kreativen Schreibprozessen (critique génétique), die sich anhand von Schreibspuren rekonstruieren lassen, oder auf der Veränderung der Texte selbst (historisch-kritische Edition). Im zweiten Fall wird oft, aber nicht zwingend, ein edierter Text (Lesetext) in seiner vorläufig ‚endgültigen‘ Form geboten.

2. Perspektive

Der Blick auf die Genese ist entweder ein teleologischer und damit einer, der von einem finalen Textzustand (in seiner ‚endgültigen‘ Gestalt) ausgehend die Entwicklung aus der Retrospektive nachvollzieht, oder aber er ist organologisch, indem er sich einen ‚Keim‘(1) zum Ausgangspunkt nimmt und von dort aus das Wachstum mit seinen Verzweigungen im allmählichen Verlauf nachvollzieht, ohne dass er einen fixen Zielpunkt benötigt. In der deutschsprachigen Tradition der historisch-kritischen Editionen dominiert seit jeher die teleologische Ausrichtung, auch wenn immer wieder Versuche unternommen wurden, diese Blickrichtung zugunsten einer organologischen aufzubrechen.(2) Auch Ansätze wie die critique génétique sind nicht ganz frei von dieser Vorstellung, wenn Texten in Dokumenten ein Status avant-texte zugeschrieben wird.

3. Granularität

Genese lässt sich je nach Interesse und Ausrichtung der Editionen auf der Makro- als auch auf der Mikroebene verorten. Die Makroebene meint die Gesamtheit aller Texte, die ein Werk ausmachen. Man kann in diesem Kontext auch von Werkgenese sprechen.(3) Es werden dabei großflächige, konzeptionelle Veränderungen oder solche mit Auswirkung auf die Werkinterpretation in den Blick genommen. Beispielhaft hierfür lässt sich der kompositorische Umbau eines Werkes anführen. Die Mikrogenese (Textgenese) hingegen widmet sich den traditionell als Varianten bezeichneten Abweichungen eines Textes und ihren Beziehungen untereinander und damit verbundenen Gruppierungsmöglichkeiten (insbesondere Revisionsschichten und Textstufen). Dabei wird zumeist eine dokumentenübergreifende Perspektive eingenommen; als darstellerische Mittel greift man hier insbesondere auf den von Hans Zeller entwickelten synoptischen Apparat zurück. Doch lässt sich die Mikroebene im wörtlichen Sinn auch und insbesondere auf einzelne Textstellen in einzelnen Dokumenten anwenden. Diese Stellen bilden in der editorischen Arbeit stets den Ausgangspunkt für die Befragung genetischer Zusammenhänge.(4) Etabliert hat sich für die Rekonstruktion der Mikrogenese der Treppen- oder Stufenapparat. Prinzipiell lassen sich die verschiedenen Apparatmodelle in Abhängigkeit von der Ausrichtung der Edition jedoch variabel einsetzen und sind nicht strikt an lediglich eine Ebene der Genese gebunden.

4. Textbegriff

Die Gestaltung einer genetischen Edition orientiert sich stark an dem ihr zu Grunde liegenden Textbegriff. Bei einem eher als traditionell zu bezeichnenden engeren Textverständnis geht man von einem ‚endgültigen‘, vom intendierten Text aus, der auch in einer genetischen Ausgabe nicht aufgegeben werden muss, sondern lediglich an Stellenwert insofern verliert, als die Variantenapparate als neben dem Text gleichberechtigter Bestandteil einer Edition verstanden werden.(5) Dem gegenüber steht ein von Gunter Martens geprägter erweiterter, dynamischer Textbegriff, der alle textkritischen Varianten als inhärenten Teil des Textes auffasst und „der Textvarianz eine zentrale Rolle zukommen“(6) lässt. Hier finden sich Anknüpfungspunkte für Theorien und Konzepte wie des Social Editing und des Fluid text, die auch den Leser und Ausgabennutzer und damit die Rezeptionsseite in die Textentstehungsprozesse aktiv einbeziehen.
In Abhängigkeit der genannten Kriterien und deren Gewichtung sowie der Wahl des Mediums – analog, digital oder hybrid – können die genetischen Editionen in ihrer Form und Ausprägung sehr unterschiedlich gestaltet sein. Darstellungsformen von Genese lassen sich prinzipiell und je nach Komplexitätsgrad deskriptiv oder visuell umsetzen, meist ist eine Mischung beider Darstellungstypen zu beobachten. Alle genetischen Editionen verfolgen das Ziel, die Varianten nicht als ‚Nebenprodukt‘ eines Textes zu behandeln. Aus dieser Motivation heraus wurden neue Apparatformen (Stufenapparat, synoptischer Apparat) entwickelt, die die Varianten nicht als Anhängsel – etwa in Form eines Fußnotenapparates – präsentieren, sondern diese mit eigenständigen Darstellungsformen gegenüber dem edierten Text aufwerten und ihnen mindestens einen eigenen, wenn nicht zentralen Wert in der Ausgabe zugestehen. Modellcharakter haben hinsichtlich dieser visuellen Umsetzung weiterhin die hierfür bedeutsamen gedruckten Ausgaben der Werke Hölderlins (Frankfurter Ausgabe 1976–2008) sowie der Gedichte Georg Heyms (1993) und Georg Trakls (Innsbrucker Ausgabe 1995–2014). Mit den neuen Möglichkeiten digitaler Editionen verbindet sich jedoch zunehmend auch der Wunsch, sich von der Buchgestalt entfernende und die technischen Möglichkeiten voll ausschöpfende neue Visualisierungsformen zu etablieren. Für die Darstellung der Werkgenese(7) stellt dies offensichtlich weniger ein Problem dar als für die der Textgenese.


Forschungsbericht

Fest etabliert wurde der Begriff der textgenetischen Edition durch den von Gunter Martens und Hans Zeller im Jahr 1998 herausgegebenen gleichnamigen Sammelband,(8) in welchem Berichte zu damaligen (laufenden wie auch abgeschlossenen) Editionsprojekten zu finden sind, die sich durchaus als genetisch verstehen, aber nicht immer explizit als solche bezeichnet wurden.(9) Als Meilenstein für die Theoretisierung einer genetischen Edition muss man allerdings vielmehr das Jahr 1971 mit dem von Gunter Martens und Hans Zeller herausgegebenen Sammelband Texte und Varianten anführen: Das hierin von Martens entwickelte dynamische Textmodell(10) versteht Text als summarische und nicht als statische Größe, indem alle Varianten in ihren Verhältnissen zueinander als Teil des Textes betrachtet werden. Die Genese ist „tendenziell […] niemals abgeschlossen“.(11) Die Wiedergabe eines Textes in einer Edition wird gewissermaßen als „durch äußere Gegebenheiten“ erzwungener Abschluss bewertet.(12) Henning Boetius gelingt im selben Band mit der Unterscheidung der Korrekturen in Sofort-, Bald- und Spätkorrekturen eine Differenzierung, die neue Maßstäbe in der Variantenein- und -anordnung schafft.(13) Beide – Martens wie Boetius – beziehen sich in ihrer Argumentation auf den eigentlichen, ‚geistigen‘ Vater der genetischen Edition: Reinhold Backmann. 1924 entwickelt dieser eine Theorie einer Werkgeschichte, die „den natürlichen Entwicklungsverlauf“(14) berücksichtigt. Die Hauptaufgabe des Variantenapparats liegt für Backmann in der „Betonung der Anfangsgestalt“ und steht damit konträr zur „Betonung der letzten Gestalt in den Textdrucken“. Damit hält Backmann zwar bezüglich der Textwiedergabe an der Konstruktion eines ‚endgültigen‘, finalen Textes fest und bleibt auf dieser Ebene dem etablierten teleologischen Prinzip verpflichtet, aber – und das ist neu und bahnbrechend – er bringt mit der Aufwertung der Varianten als Zeugen einer Entwicklungsgeschichte, deren Chronologie es zu rekonstruieren gilt, eine organologische Sichtweise gleichberechtigt in die Edition hinein. Man kann in diesem Kontext daher zu Recht vom eigentlichen Beginn der genetischen Edition sprechen. Nicht zu unterschätzen hinsichtlich seiner ‚Vorarbeiten‘ für die Theoriebildung einer genetischen Edition ist Friedrich Beißner. Trotz vielfacher und scharfer Kritik an seinem für die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1946–85) entwickelten Stufenapparat wurde genau dieser, nur eben ohne die Intention einer finalen, idealisierten Textstufe, für eine genetische Apparatgestaltung fruchtbar gemacht.(15)

Parallel zur Entwicklung in der deutschsprachigen Editionslandschaft seit den 1970er Jahren hat sich in Frankreich mit der critique génétique eine Methode etabliert, bei der die Genese von Texten und literarischen Werken als Schreibszenarien in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt ist. Wichtige Impulse im Umgang mit Handschriften und Drucken als Trägern von Schreibprozessen sind von Paris ausgegangen und wurden von der deutschsprachigen Editionslandschaft aufgenommen. Eine kontinuierliche Annäherung beider Traditionen ist gegenwärtig zu beobachten.

Mit der Digitalisierung ergeben sich nunmehr neue Chancen für die genetische Edition: 1. Einerseits eröffnet eine digitale Edition neue quantitative Möglichkeiten der Loslösung von einem verbindlichen Grundlagentext für die Darstellung der Varianten, indem dynamische Prozesse gleichsam dynamisch durch variable Ansichten realisiert werden können. Einem zu Grunde liegenden dynamischen Textbegriff könnte so Rechnung getragen werden. Mit der Option neuer Visualisierungsformen verbindet sich damit zugleich die Frage einer Emanzipation von im Druckmedium etablierten Variantenapparaten. 2. Die Dateneingabe und -sicherung in möglichst standardisierter Form erhält zunehmend Relevanz. Im Bereich der digitalen Editionen hat sich in den letzten Jahren das auf der Extensible Markup Language (XML) basierende Auszeichnungswerkzeug der Text Encoding Initiative (TEI) als maßgebliches etabliert, das auch die Kodierung zahlreicher genetischer Zusammenhänge erlaubt.(16) 3. Mit dem digitalen Medium sind auch neue Auswertungsmöglichkeiten qualitativer wie quantitativer Art von editorisch bereitgestellten Daten gegeben. Dieses Gebiet wird in den nächsten Jahren größere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.


Siehe auch


Literatur

  • Backmann, Reinhold, Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter (Mit besonderer Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien), in: Euphorion 25 (1924), S. 629–662.
  • Beißner, Friedrich, Aus der Werkstatt der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, in: Ders., Hölderlin. Reden und Aufsätze, Weimar 1961, S. 251–265.
  • Boetius, Henning, Textqualität und Apparatgestaltung, in: Martens, Gunter und Hans Zeller (Hg.), Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München: C. H. Beck 1971, S. 233–250.
  • Bohnenkamp, Anne et. al., Perspektiven auf Goethes ‚Faust‘. Werkstattbericht der historisch-kritischen Hybridedition, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2011 (2012), S. 23–67.
  • Heym, Georg, Gedichte 1910–1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung, hg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider, 2 Bde., Tübingen: Niemeyer 1993.
  • Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe‘. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von D. E. Sattler, Frankfurt am Main und Basel: Roter Stern 1976–2008.
  • Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck, 8 Bde. Stuttgart: Cotta 1946–1985.
  • Martens, Gunter, Dichterisches Schreiben als editorische Herausforderung. Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Textdarstellung in historisch-kritischen Ausgaben, in: Hans Zeller und Gunter Martens (Hg.), Textgenetische Edition, Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 103–116.
  • Martens, Gunter, Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen, in: Ders. und Hans Zeller (Hg.), Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München: C. H. Beck 1971, S. 165–201.
  • Nutt-Kofoth, Rüdiger, Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37/1 (2005), S. 97–122.
  • Pravida, Dietmar, ‚Ideales Wachstum‘. Zu einer Denkfigur der klassischen neugermanistischen Editionswissenschaft, in: Anne Bohnenkamp et. al. (Hg.), Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie, Göttingen: Wallstein 2010, S. 180–190.
  • Trakl, Georg, Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina, 6 Bde. in 8 und 2 Suppl.-Bde, Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995–2014.
  • Zeller, Hans, Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert, in: Roloff, Hans-Gert (Hg.), Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung, Berlin: Weidler 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 5), S. 143–207.
  • Zeller, Hans und Gunter Martens (Hg.), Textgenetische Edition, Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio. 10).


Webressourcen


Referenzen

(1) Die Vorstellung einer Entwicklung vom Keim zur Pflanze wurde aus Goethes Morphologie in die Editionswissenschaft übernommen. Allerdings ist Goethes Konzept teleologisch ausgerichtet, da er in jeder Wesensbildung eine natürliche Gesetzmäßigkeit annahm. Gunter Martens, der sich ausführlich zu Goethes Konzept äußert, widerlegt dieses teleologische Denken in Bezug auf das Wachsen eines Textes/Werkes und billigt ihm viel eher zufällige Entwicklungen zu. Martens 1998, S. 108.
(2) Eine ausführliche Darstellung liefert Nutt-Kofoth 2005.
(3) So Bohnenkamp et al. 2012.
(4) Reinhold Backmann bezieht sich auf diese Einzelstellen und ihr näheres Umfeld, wenn er von absoluter und relativer Chronologie spricht: „Unter absoluter Chronologie verstehe ich die zeitliche Abfolge aller Änderungen zu einer und derselben Stelle ohne Rücksicht auf umgebende Teile der Handschrift. Die relative Chronologie versucht mehrere absolute Chronologien zueinander in Beziehung zu setzen.“ Backmann 1924, S. 638.
(5) So in der Tendenz schon Backmann 1924.
(6) Insbesondere Martens 1971, S. 171.
(7) S. hierzu beispielsweise die tableaux génétiques des brouillons in der digitalen Ausgabe der Handschriften von Flauberts Madame Bovary: http://www.bovary.fr/tableau_genetique.php?tabfen=norm&id=41&mxm=0000010002&tabfen=norm.

hlk