Athetese

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Ausgrenzung oder Tilgung sprachlicher Elemente (Wörter, Sätze, Textteile) aus einem größeren Textganzen, auch das Absprechen der Zugehörigkeit eines Textes zu einem Autorœuvre durch einen Bearbeiter, Editor, meist mit der Begründung, dass diese Elemente nicht auf den Urheber (Autor) zurückgingen. In der Regel ist die Textüberlieferung nicht autorisiert.

Explikation

Das Wort ist griechischen Ursprungs (ἀθέτησις, athetésis) und bedeutet so viel wie das ‚Beiseitestellen‘, ‚Tilgen‘, ‚Ausgrenzen‘. In der Editionswissenschaft sind Athetesen textkritische Operationen. Sie kommen einer Konjektur nahe, doch anders als bei einer solchen wird mutmaßlich verderbter Wortlaut nicht gebessert, sondern vollständig getilgt. Zugrunde liegen oft schwer objektivierbare Annahmen über die ursprüngliche Gestalt eines Textes (Original) und über die mutmaßlichen Intentionen des Autors. Werden Textbestandteile athetiert, dann bedeutet dies, dass der Textkritiker/Editor davon ausgeht, dass diese Textteile erst sekundär, also nicht vom Autor, sondern von anderer Hand (Fremdvariante, Überlieferungsvariante), in einen Text eingefügt worden sind (Interpolation) und damit den Status des ‚Unechten‘ einnehmen. Ähnlich wie bei konjekturalen Eingriffen möchte der Editor durch Athetesen einem Text seine mutmaßlich ursprüngliche, vom Autor intendierte Gestalt wiedergeben. Bei Athetesen kann es sich um das Tilgen von einzelnen Wörtern, Versen oder Sätzen bis hin zum Ausgrenzen größerer Textverbünde (Strophen, Lieder; Abschnitte, Kapitel) aus einem Gesamtwerk handeln. Die Athetese ist vom Verfahren der Zensur (hier dominieren moralische, politische und/oder rechtliche Beweggründe für das Tilgen von Text) grundsätzlich zu unterscheiden, doch hat eine Reihe von Athetesen in der Altgermanistik durchaus Zensurcharakter (s. u.).

Forschungsbericht

Ähnlich wie Konjekturen und Emendationen sind auch Athetesen bereits in Antike und Mittelalter bekannt und praktiziert worden. Besonders prominent sind entsprechende, sich über viele Jahrhunderte verteilende Operationen im Bereich der Bibel-Editorik (‚Suche nach der Ur-Bibel‘, Konstruktion eines Kanons ‚echter‘ Bibeltexte, Ausgrenzung von Apokryphen). Die Athetese ist Teil der ars corrigendi (Kunst/Wissenschaft des Verbesserns) bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, wobei vor allem im frühen 19. Jahrhundert (Geburtszeit der Philologien als wissenschaftlicher Disziplinen in Europa) dieses Verfahren besonders gerne angewendet wurde. Dies hing ursächlich mit einer autor- und originalorientierten Literaturwissenschaft zusammen. Erst im Kontext des Poststrukturalismus (etwa ab den späten 1960er Jahren) wurden diese Kategorien in den Textwissenschaften vehement in Frage gestellt. In der germanistischen Mediävistik fand die Athetese in der Hauptsache und mit den größten (und bedenklichsten) Auswirkungen im Bereich der Lyrik Anwendung. Hier war es vielen Philologen ein Anliegen, aus der Menge der unter einem Autornamen überlieferten Texte diejenigen auszusondern, die nach Meinung des Editors von den mittelalterlichen Redaktoren oder Schreibern zu Unrecht diesem Autor zugeschrieben worden waren. In den meisten Fällen spielten subjektive Urteile über den Stil und das Ethos eine zentrale Rolle, wie auch rein statistische Erhebungen über die Frequenz von bestimmten Wörtern oder Syntagmen ins Feld geführt wurden. Dies führte in Einzelfällen zu künstlich und willkürlich konstruierten Dichter-Œuvres, die kaum noch eine Absicherung in der mittelalterlich-handschriftlichen Überlieferung hatten. Besonders bekannt sind die Œuvres von Reinmar (dem Alten) und Neidhart. Neben manch anderen Beweggründen spielten hier auch moralische Bedenken von Editoren eine Rolle. So wurden aus dem überlieferten lyrischen Werk Neidharts viele Texte ausgesondert, die obszöner Natur waren und die man weder dem Autor zutrauen noch dem wissenschaftlichen Publikum zumuten wollte. Heutzutage ist man mit solchen Operationen sehr zurückhaltend und konzentriert sich mehr auf die überlieferten Texte an sich, denen alle eine gleichermaßen sorgfältige editorische Behandlung zukommen muss.

In der Neuphilologie spielen Athetesen wegen des reichen Vorliegens von autorisierten/authentischen Textträgern (vom Autor hergestellten Handschriften, vom Autor kontrollierten, gebilligten Drucken) nur gelegentlich eine Rolle. Dies ist dann der Fall, wenn nicht-autorisierte Textträger eine verlorene Autorfassung repräsentieren (z. B. bei Büchners Drama ‚Leonce und Lena‘, bei dem in den einzig überlieferten beiden nicht-autorisierten Druckfassungen Hinzufügungen von Redakteur bzw. Herausgeber erkannt werden müssen). Das trifft zudem auch dann zu, wenn Werke dem Autorœuvre absichtlich oder irrtümlich eingegliedert wurden (etwa Fälle bei Annette von Droste-Hülshoff, prominent hinsichtlich des Grillparzer-Gedichts ‚Entzauberung‘, das aufgrund einer Handschrift fremder Hand im Droste-Nachlass das 20. Jahrhundert über als Droste-Text galt).

Siehe auch

Literatur

  • Bein, Thomas, Athetesen und Argumentationen, in: „Dâ hoeret ouch geloube zuo“. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang, Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstages, hg. von Rüdiger Krohn in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreeßen, Stuttgart und Leipzig 1995, 9-26.
  • Bein, Thomas, „Mit fremden Pegasusen pflügen“. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998.
  • Reulecke, Anne-Kathrin, Hg., Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt am Main 2006.
  • Schweikle, Günther, Neidhart, Stuttgart 1990.
  • Tervooren, Helmut, Reinmar-Studien. Ein Kommentar zu den ‚unechten‘ Liedern Reinmars des Alten, Stuttgart 1991.
  • Vanek, Klara, „Ars corrigendi“ in der Frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte der Textkritik, Berlin 2007.

Webressourcen

https://de.wikipedia.org/wiki/Athetese


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