Musikedition
Unter Musikedition versteht man die Ausgabe von Notentexten, seien sie mit oder ohne Worttexte. Zumeist werden diese trotz der in den letzten 15 Jahren verstärkt wahrgenommenen Digitalisierung nach wie vor im Druck präsentiert.
Explikation
Die Edition eines musikalischen Textes hängt im Wesentlichen von der Überlieferungssituation der Quellen ab, mithin auch von deren historischer Bewertung, zum anderen aber auch von der Intention des Herausgebers bzw. von den Zielgruppen, für welche die jeweilige Ausgabe erstellt werden soll. Als Konsequenz alternativer editorischer Zielsetzungen unterscheidet man verschiedene Ausgabentypen. Eine Extremposition stellen die Faksimileausgaben dar, die den musikalischen Text unangetastet belassen. Die Gegenposition nehmen die Interpretations- oder Bearbeitungsausgaben ein, die das historische Werk weitgehend der ästhetischen Gegenwart des Bearbeiters anpassen. Ersterer Ausgabentyp dient primär Studienzwecken, letzterer hingegen eher der Aufführungspraxis; zur Anpassung des Notentextes an den Zeitgeschmack oder die Aufführungssituation wurden und werden in diesen durchaus Änderungen an der Werksubstanz vorgenommen (wie etwa in den Ausgaben von M. Reger oder F. Busoni). Zwischen diesen Polen sind die übrigen Ausgabentypen angesiedelt, wobei grundsätzlich unterschieden wird zwischen wissenschaftlichen und praktischen Editionen. Diese Termini bezeichnen hinsichtlich der Editionsphilologie keinen Gegensatz, sondern allenfalls hinsichtlich ihrer Zweckbestimmung. Die Herausgeber von praktischen Ausgaben werden stärker als die einer wissenschaftlichen darum bemüht sein, den Notentext weitgehend ohne diakritische Zeichen einzurichten, um dem Benutzer einen möglichst leicht lesbaren Notentext zu bieten. Eine Edition gilt dann als wissenschaftliche, wenn der Herausgeber mindestens die primären Quellen herangezogen hat und alle von ihm vorgenommenen Korrekturen und Ergänzungen gegenüber dem überlieferten Text so darstellt, dass seine jeweilige Entscheidung nachprüfbar und gegebenenfalls vom Benutzer modifizierbar ist. Veränderungen gegenüber der Vorlage können aus philologischen Erwägungen heraus notwendig sein; so können im Autograph enthaltene Fehler durch den Vergleich von autorisierten Abschriften, wie beispielsweise den Originalstimmen, korrigiert werden.
Überlieferung und Edition
Die handschriftliche Überlieferung eines musikalischen Werkes mit größerer Besetzung besteht häufig aus verschiedenen primären Quellen, deren Funktion jedoch differiert: Der Komponist fixiert den geplanten Notentext zunächst in aller Regel in einer Partitur, die ihm eine größtmögliche Übersicht über den Stimmenverlauf, zugleich aber auch über die harmonische Disposition gewährt. Häufig werden diese Kompositionspartituren nicht bis ins letzte Detail ausformuliert, um den Schreibfluss beim Kompositionsprozess nicht über Gebühr zu verlangsamen. Aus diesem Grunde beschränken sich manche Komponisten zunächst auf eine wesentlich skizzenhaftere Niederschrift, das Particell.
Da aus der Partitur allenfalls einige wenige Musiker spielen können, muss aus dieser ein Stimmensatz hergestellt werden, deren einzelne Stimmen dann dem ausführenden Musiker zur Verfügung gestellt werden. Da diese Stimmen meist im Auftrag des Komponisten von anderen Schreibern hergestellt werden, besteht während des Kopiervorganges für den Komponisten die Möglichkeit, noch aktiv in die Erstellung des Notentextes einzugreifen. Meist geschieht dies bei einer Revision der Stimmen. Anders als in der Partitur wird ihm daran gelegen sein, in den Stimmen die musikalischen Sachverhalte möglichst präzise darzustellen. Allerdings kann er Ungenauigkeiten und Fehler oder gewünschte Änderungen auch noch während der Proben einbringen. Obwohl die Stimmen als von der Partitur abhängige Quellen eigentlich für eine Edition ausgeschlossen werden sollten, bieten die Stimmen häufig erst die erwünschte Klärung darüber, wie einzelne Stellen (Besetzung, Dynamik, Korrekturen) ausgeführt werden sollen. Insofern repräsentieren sie am ehesten den Stand dessen, was der Komponist bei der Komposition seines Werkes intendiert hat, denn die Aufführung seiner Musik dürfte fast immer als Schlusspunkt seiner Tätigkeit anzusehen sein. Auf der anderen Seite können bei der Herstellung von Stimmen Fehler entstehen, die nun dank der Kompositionspartitur emendiert werden können. Somit stellt eine Mischung unterschiedlicher Textzeugen für die Erstellung einer Ausgabe zumindest bei optimaler Quellenüberlieferung (Partitur und Stimmen sowie ggf. Particell) bei der Musikedition die übliche Praxis dar. Damit unterscheidet sich diese von Editionen literarischer Werke, bei denen in aller Regel Quellenmischungen nicht erlaubt sind.
Denkmäleredition und Gesamtausgaben
Urtext-Ausgabe
Eine ähnliche Zielsetzung hat die sogenannte Urtext-Ausgabe, die ebenfalls weitgehend auf Herausgeberzusätze verzichtet und im Wesentlichen den kritisch erschlossenen Notentext in moderner Notation wiedergibt. Der Begriff Urtext freilich impliziert eine Vorlage, wie sie häufig gar nicht existiert. Bei nur sekundärer Quellenüberlieferung beispielsweise kann der Urtext allenfalls unter Einbeziehung zahlreicher Unwägbarkeiten erschlossen werden. Terminologische Probleme entstehen auch überall da, wo ein Werk in unterschiedlichen Fassungen überliefert wird; oft ist eine spätere Fassung historisch bedeutsamer als die erste, die Urfassung. Auch begründete historisch-wissenschaftliche Herausgeberzusätze verwässern häufig die zu unterstellende Zielsetzung.
Kritischer Bericht
Methode
Ältere Musik bis 1600
Die Methoden der Edition sind abhängig von den historisch vorgegebenen Notationsformen sowie der Überlieferungssituation. Die ältere Musik bis etwa 1600 ist in Tonschriften überliefert, die von der heutigen stark abweichen und die meist nicht ohne weiteres vom Musikpraktiker in Klang umgesetzt werden können. Entsprechend wurden Vorlagen in Tabulaturschrift, Mensural-, Choral- oder Modalnotation innerhalb der Denkmälerausgaben des 19. Jahrhunderts meist in eine moderne Notation umgeschrieben. Die unterschiedlich angewandten Verfahren zur Transkription des Notentextes zeitigten jedoch stark voneinander abweichende Ergebnisse. Zudem wurde deutlich, dass die unterschiedlichen originalen Notationsformen den jeweiligen Kompositionen ausgesprochen angemessen sind, was bedeutet, dass jede Transkription zu Informationsverlusten führt. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis richten sich die heute verwendeten Transkriptionsmethoden normalerweise stärker auf den Einzelfall aus – ein Verfahren, das jedoch nicht unumstritten ist. Die für die Musik um 1500 angewandte konventionelle Methode, sämtliche Notenwerte im Verhältnis 2:1 zu reduzieren, wird von einer interpretativen Methode abgelöst, bei der die Reduktionen flexibel gehandhabt werden können.
Da moderne Editionen grundsätzlich in Partiturform notieren, ist die Lesbarkeit mitunter gefährdet, wenn die Kompositionen keine Taktstriche oder sonstige Gliederungszeichen enthalten. Diese werden meist so ergänzt, dass eine Fehlinterpretation der Gliederungsstriche als Taktstriche ausgeschlossen ist. Als ähnlich problematisch wie das Ergänzen von Gliederungszeichen erweist sich die Akzidentiensetzung, da bislang ungeklärt ist, ob es hierfür zur Zeit der Entstehung der jeweiligen Kompositionen eine Normierung gab, oder ob es dem Ermessen des Aufführenden überlassen blieb, gegebenenfalls fehlende Akzidentien zu ergänzen. Aus diesen Problemen erwuchs die Forderung nach Faksimileausgaben, um so eine Transkription und die damit verbundenen Informationsverluste zu vermeiden. Damit jedoch würden die notwendigen Herausgeberentscheidungen lediglich auf den Benutzer abgewälzt. Eine mehrschichtige Edition, bei der sowohl eine Umschrift als auch ein Faksimile und gar noch eine von bereits im Faksimile enthaltenen Textproblemen bereinigte Fassung wiedergegeben werden könnten, scheiterte bislang wegen des großen Aufwandes in der Regel an ökonomischen Erwägungen, dürfte aber dank der Digitalisierung in Zukunft eher die Norm darstellen.
17. und 18. Jahrhundert
Für die Edition der Musik nach 1600 stellen sich andere Probleme: Die Schreiber der Partituren des 17. und 18. Jahrhunderts beschränkten sich häufig mehr oder weniger auf den reinen Notentext und bewerteten Dinge, die für den Musiker der damaligen Zeit selbstverständlich waren, als etwas Akzidentelles, das nicht eigens notiert werden musste. Hierzu gehören Verzierungen, Manieren, dynamische Zeichen und die Aussetzung des Generalbasses. Dieser, von Improvisation ausgefüllte Freiraum entzog sich der genauen Notierung nicht zuletzt auch deshalb, weil gerade die willkürlichen Veränderungen bei den Aufführungen gewünscht waren. Da – anders als vor 50 Jahren – heute wieder zahlreiche Musiker in der Lage sind, diese Freiräume selbständig improvisatorisch zu nutzen, wird in den neueren Ausgaben meist auf derartige Herausgeberergänzungen verzichtet. Insbesondere eine in Noten fixierte Generalbassaussetzung, die fälschlicherweise eine vorgegebene und feststehende Ausführung suggeriert, scheint heute überflüssig oder gar störend.
Editorische Probleme bereitet auch die ältere Partituranordnung, die häufig nicht der modernen entspricht. Hier ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen, tendenziell aber findet die originale Partituranordnung immer öfter Eingang in die Editionen, nicht zuletzt, weil sich diese oft als die praktikablere und übersichtlichere erweist. Auch die gängige Umschreibung von alten in neue Schlüssel kann zu Informationsverlusten führen. Problembehaftet ist zudem die Artikulation. Artikulationsbögen sind in den Quellen häufig sehr ungenau gesetzt, so dass kaum zu erkennen ist, bei welcher Note der Bogen beginnt und wo er endet. Eine diplomatisch getreue Übernahme in den modernen Notentext würde diesen häufig auf Schreibereigenheiten zurückgehenden Sachverhalt überbewerten, zumal aus den Quellen oft ersichtlich ist, dass die Bögen lediglich flüchtig gesetzt wurden und abweichenden Bogenlängen nicht unbedingt eine Bedeutung zukommt.
18. und 19. Jahrhundert
Bei der Musik des späten 18. und 19. Jahrhunderts stellt sich dieses Problem in einer abweichenden Form: Oft sind die Werke sowohl in einer autographen Urschrift (häufig nur in skizzierter Form) und in einer Reinschrift als auch in einer autorisierten Stichvorlage und einem Originaldruck überliefert; mitunter liegen zusätzlich abschriftliche und z. T. noch gedruckte Stimmen oder ferner sogar ein Klavierauszug vor. Dabei ist im Einzelnen kaum zu entscheiden, ob abweichende Lesarten auf den Autor selbst zurückgehen oder ob sie von den an der Erstellung des Werkmaterials beteiligten Schreibern bzw. Verlegern als notwendig betrachtet wurden. Daher ist es bis heute strittig, ob für eine Edition das Autograph oder aber der Originaldruck als maßgebliche Quelle zugrundegelegt werden sollte. Zudem suggeriert die Vielzahl von aufführungsrelevanten Zeichen (wie sehr differenzierte Dynamikzeichen, Tempo- und Metronomangaben, Artikulationszeichen und zusätzliche Textangaben), dass das Werk in (fast) allen wesentlichen Punkten fixiert ist. In Wirklichkeit aber wurden manche Konventionen im Notat selbst nicht berücksichtigt; zudem weisen gerade die präzisierenden Zeichen eine nicht unbeträchtliche Ungenauigkeit auf. Vor allem im Vergleich mit den unterschiedlichen Textschichten erweist sich das scheinbar Präzise als durchaus interpretationsbedürftig. Ein mehrfacher Abdruck der Varianten verbietet sich meist aus Gründen der Ökonomie.
20. Jahrhundert
Wiederum veränderte Probleme bietet die Musik des 20. Jahrhunderts: Nicht nur die Tatsache, dass die Notation häufig nicht mehr in der tradierten Schriftform erfolgt und viele Komponisten ihre eigenen Notationssysteme entwickelt haben, sondern auch die den Interpreten inzwischen wieder eingeräumten größeren Freiheiten, führten zu der Frage, ob und inwieweit der Editor ein bewusst als offenes Kunstwerk konzipiertes musikalisches Werk vervollständigen dürfe. Aus editorischer Sicht bestehen hier Analogien zur unvollständigen Notation älterer Musik. Anders als bei dieser liegen von neuer Musik aber u. U. auch Konzertmitschnitte unter der Leitung oder Mitwirkung des Komponisten vor, die Anregungen geben, wie die bewussten Freiräume gefüllt werden könnten, und die möglicherweise bei einer Edition Berücksichtigung finden müssten. Das Modell des „work in progress“ wurde u. a. von Charles Ives extrem in die Werkkonzeption einbezogen.
Da eine wie auch immer geartete Musikedition nicht auf Herausgeberentscheidungen verzichten kann, wäre es eine Illusion, von ihr einen endgültigen Notentext zu erwarten. Durch diakritische Zeichen und die Kritischen Berichte sollten jedoch die Herausgeberentscheidungen ausgewiesen und nachvollziehbar werden.
Digitale Edition
Literatur
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- Emans, Reinmar und Ulrich Krämer (Hg.), Musikeditionen im Wandel der Geschichte (= Bausteine zur Geschichte der Edition 5), Berlin 2015.
- Emans, Reinmar, Neue Darstellungsformen von Fassungen musikalischer Werke, in: Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft, hg. von Anne Bohnenkamp (= Beihefte zu editio, 35), Berlin/Boston 2013, S. 129–139.
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