Musikedition

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Unter Musikedition versteht man die Ausgabe von Notentexten, seien sie mit oder ohne Worttexte. Zumeist werden diese trotz der in den letzten 15 Jahren verstärkt wahrgenommenen Digitalisierung nach wie vor im Druck präsentiert.

Explikation

Die Edition eines musikalischen Textes hängt im Wesentlichen von der Überlieferungssituation der Quellen ab, mithin auch von deren historischer Bewertung, zum anderen aber auch von der Intention des Herausgebers bzw. von den Zielgruppen, für welche die jeweilige Ausgabe erstellt werden soll. Als Konsequenz alternativer editorischer Zielsetzungen unterscheidet man verschiedene Ausgabentypen. Eine Extremposition stellen die Faksimileausgaben dar, die den musikalischen Text unangetastet belassen. Die Gegenposition nehmen die Interpretations- oder Bearbeitungsausgaben ein, die das historische Werk weitgehend der ästhetischen Gegenwart des Bearbeiters anpassen. Ersterer Ausgabentyp dient primär Studienzwecken, letzterer hingegen eher der Aufführungspraxis; zur Anpassung des Notentextes an den Zeitgeschmack oder die Aufführungssituation wurden und werden in diesen durchaus Änderungen an der Werksubstanz vorgenommen (wie etwa in den Ausgaben von M. Reger oder F. Busoni). Zwischen diesen Polen sind die übrigen Ausgabentypen angesiedelt, wobei grundsätzlich unterschieden wird zwischen wissenschaftlichen und praktischen Editionen. Diese Termini bezeichnen hinsichtlich der Editionsphilologie keinen Gegensatz, sondern allenfalls hinsichtlich ihrer Zweckbestimmung. Die Herausgeber von praktischen Ausgaben werden stärker als die einer wissenschaftlichen darum bemüht sein, den Notentext weitgehend ohne diakritische Zeichen einzurichten, um dem Benutzer einen möglichst leicht lesbaren Notentext zu bieten. Eine Edition gilt dann als wissenschaftliche, wenn der Herausgeber mindestens die primären Quellen herangezogen hat und alle von ihm vorgenommenen Korrekturen und Ergänzungen gegenüber dem überlieferten Text so darstellt, dass seine jeweilige Entscheidung nachprüfbar und gegebenenfalls vom Benutzer modifizierbar ist. Veränderungen gegenüber der Vorlage können aus philologischen Erwägungen heraus notwendig sein; so können im Autograph enthaltene Fehler durch den Vergleich von autorisierten Abschriften, wie beispielsweise den Originalstimmen, korrigiert werden.

Überlieferung und Edition

Die handschriftliche Überlieferung eines musikalischen Werkes mit größerer Besetzung besteht häufig aus verschiedenen primären Quellen, deren Funktion jedoch differiert: Der Komponist fixiert den geplanten Notentext zunächst in aller Regel in einer Partitur, die ihm eine größtmögliche Übersicht über den Stimmenverlauf, zugleich aber auch über die harmonische Disposition gewährt. Häufig werden diese Kompositionspartituren nicht bis ins letzte Detail ausformuliert, um den Schreibfluss beim Kompositionsprozess nicht über Gebühr zu verlangsamen. Aus diesem Grunde beschränken sich manche Komponisten zunächst auf eine wesentlich skizzenhaftere Niederschrift, das Particell.

Da aus der Partitur allenfalls einige wenige Musiker spielen können, muss aus dieser ein Stimmensatz hergestellt werden, deren einzelne Stimmen dann dem ausführenden Musiker zur Verfügung gestellt werden. Da diese Stimmen meist im Auftrag des Komponisten von anderen Schreibern hergestellt werden, besteht während des Kopiervorganges für den Komponisten die Möglichkeit, noch aktiv in die Erstellung des Notentextes einzugreifen. Meist geschieht dies bei einer Revision der Stimmen. Anders als in der Partitur wird ihm daran gelegen sein, in den Stimmen die musikalischen Sachverhalte möglichst präzise darzustellen. Allerdings kann er Ungenauigkeiten und Fehler oder gewünschte Änderungen auch noch während der Proben einbringen. Obwohl die Stimmen als von der Partitur abhängige Quellen eigentlich für eine Edition ausgeschlossen werden sollten, bieten die Stimmen häufig erst die erwünschte Klärung darüber, wie einzelne Stellen (Besetzung, Dynamik, Korrekturen) ausgeführt werden sollen. Insofern repräsentieren sie am ehesten den Stand dessen, was der Komponist bei der Komposition seines Werkes intendiert hat, denn die Aufführung seiner Musik dürfte fast immer als Schlusspunkt seiner Tätigkeit anzusehen sein. Auf der anderen Seite können bei der Herstellung von Stimmen Fehler entstehen, die nun dank der Kompositionspartitur emendiert werden können. Somit stellt eine Mischung unterschiedlicher Textzeugen für die Erstellung einer Ausgabe zumindest bei optimaler Quellenüberlieferung (Partitur und Stimmen sowie ggf. Particell) bei der Musikedition die übliche Praxis dar. Damit unterscheidet sich diese von Editionen literarischer Werke, bei denen in aller Regel Quellenmischungen nicht erlaubt sind.

Denkmäleredition und Gesamtausgaben

Es kann sich auch als zweckmäßig erweisen, dem Benutzer auf der Basis der vom Editor erworbenen historischen Kenntnis Ergänzungen zur Aufführungspraxis zu liefern. Derartige Ergänzungen werden normalerweise typographisch hervorgehoben und gegebenenfalls im sogenannten Kritischen Bericht diskutiert. Einem derartigen wissenschaftlichen Anspruch genügen in der Regel die Denkmälereditionen, in denen entweder Quellen mit Werken verschiedener Komponisten oder Werke eines einzigen Komponisten aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden. Quelleneditionen legen also ihren Schwerpunkt auf das Repertoire, die einem Komponisten gewidmeten Editionen hingegen auf die historische Bedeutung des jeweiligen Autors.(1) Letzterer Position verpflichtet sind die Gesamtausgaben, die jeweils möglichst vollständig die Werke eines einzelnen Komponisten enthalten. Entsprachen die frühen, durch die Ausbreitung des Historismus forcierten Gesamtausgaben (Haydn, Händel, Mozart) schon hinsichtlich ihrer relativen Unvollständigkeit nicht der heutigen Vorstellung einer Gesamtausgabe, so unterblieb in ihnen häufig die kritische Bewertung der Quellen, die zu einem möglichst authentischen Text hätte führen können. Mit dem Anspruch der philologisch exakteren Quellenbewertung und der daraus folgenden Vorstellung, einen authentischen Werktext zu liefern, begann man 1851 mit der Gesamtausgabe der Werke J. S. Bachs. Die aus der klassischen Philologie zu diesem Zweck entlehnte Methodik wurde bald auch für andere Gesamtausgaben nutzbringend eingesetzt (z. B. Händel, Palestrina, Beethoven, Mozart, Purcell, Schütz). Der in der Regel noch spärliche kritische Apparat, der im Wesentlichen markante Fehler der Quelle dokumentierte, erlaubte freilich nur selten die Nachprüfung der Herausgeberentscheidungen. Die großen Quellenverluste im Zweiten Weltkrieg und die Erkenntnis, dass die alten Gesamtausgaben den Ansprüchen der Wissenschaft wie auch der Praxis nicht mehr genügen konnten, führten dazu, dass seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zahlreiche Gesamtausgaben erneut in Angriff genommen wurden. Diese sollen der Wissenschaft und der Praxis gleichermaßen dienen – eine Absicht, die zwangsläufig immer wieder zu herausgeberischen Kompromissen zwingt.

Urtext-Ausgabe

Eine ähnliche Zielsetzung hat die sogenannte Urtext-Ausgabe, die ebenfalls weitgehend auf Herausgeberzusätze verzichtet und im Wesentlichen den kritisch erschlossenen Notentext in moderner Notation wiedergibt. Der Begriff Urtext freilich impliziert eine Vorlage, wie sie häufig gar nicht existiert. Bei nur sekundärer Quellenüberlieferung beispielsweise kann der Urtext allenfalls unter Einbeziehung zahlreicher Unwägbarkeiten erschlossen werden. Terminologische Probleme entstehen auch überall da, wo ein Werk in unterschiedlichen Fassungen überliefert wird; oft ist eine spätere Fassung historisch bedeutsamer als die erste, die Urfassung. Auch begründete historisch-wissenschaftliche Herausgeberzusätze verwässern häufig die zu unterstellende Zielsetzung.

Kritischer Bericht

Der Kritische Bericht bildet den gewichtigsten Teil des Apparates einer wissenschaftlichen Edition; die direkte Umsetzung von Ergänzungen im Notentext mittels typographisch abgesetzter Zusatzzeichen (wie Vorzeichen durch Klammerung oder Kleinstich, Textunterlegung durch Klammerung oder Kursive, Vortragsbezeichnung durch Klammerung, Kleinstich oder Kursive) bzw. von Änderungen, die auf den Herausgeber zurückgehen oder unmittelbar aus einer anderen als der Hauptquelle stammen, durch Kleinstich (ggf. als Ossia-Lesart) wird nach Möglichkeit auf ein Minimum begrenzt, um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen. Die Kritischen Berichte informieren über die äußere Gestalt, den Inhalt, die Herkunft (Provenienz) sowie die Geschichte der Quellen. Verzeichnisse der Korrekturen innerhalb der Primärquellen ermöglichen Rückschlüsse zur Werkgenese oder auch zu (verschollenen) Vorlagen der Quelle. Neuerdings rückt dank der Möglichkeiten der digitalen Medien die Werkgenese stärker in den Vordergrund.(2) Untersuchungen zu Wasserzeichen und Schreiberhand führen u. U. bereits zu einer historischen Einordnung. Da für den Notentext in der Regel Quellen zugrundegelegt werden, die der Intention des Autors am ehesten zu entsprechen scheinen, werden alle erhaltenen Quellen miteinander verglichen und auf ihre Wertigkeit für die Edition überprüft (recensio). Quellen, die sich als abhängig von einer anderen überlieferten Quelle erweisen, sind entsprechend für die Edition irrelevant (Elimination), es sei denn, eine derartige abhängige Quelle wurde vom Autor nachweislich autorisiert oder gar revidiert. Die für die Bewertung der Quellen unerlässliche Abhängigkeitsdiskussion (Filiation) kann im Idealfall durch einen Stammbaum (Stemma) verdeutlicht werden. Ausgewählte Lesarten der sekundären Quellen werden zum Beweis ihrer Abhängigkeit untereinander angeführt. Des Weiteren informiert der Kritische Bericht über Entstehung, Aufführungen und gegebenenfalls Bearbeitungen der Komposition und gibt die zum Kontext der Werkgenese gehörigen Materialien wieder. Eine Auflistung aller Lesarten des edierten Notentextes, die von den überlieferten und zur Edition herangezogenen Quellen abweichen, ermöglicht den Nachvollzug der Herausgeberentscheidungen.

Methode

Ältere Musik bis 1600

Die Methoden der Edition sind abhängig von den historisch vorgegebenen Notationsformen sowie der Überlieferungssituation. Die ältere Musik bis etwa 1600 ist in Tonschriften überliefert, die von der heutigen stark abweichen und die meist nicht ohne weiteres vom Musikpraktiker in Klang umgesetzt werden können. Entsprechend wurden Vorlagen in Tabulaturschrift, Mensural-, Choral- oder Modalnotation innerhalb der Denkmälerausgaben des 19. Jahrhunderts meist in eine moderne Notation umgeschrieben. Die unterschiedlich angewandten Verfahren zur Transkription des Notentextes zeitigten jedoch stark voneinander abweichende Ergebnisse. Zudem wurde deutlich, dass die unterschiedlichen originalen Notationsformen den jeweiligen Kompositionen ausgesprochen angemessen sind, was bedeutet, dass jede Transkription zu Informationsverlusten führt. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis richten sich die heute verwendeten Transkriptionsmethoden normalerweise stärker auf den Einzelfall aus – ein Verfahren, das jedoch nicht unumstritten ist. Die für die Musik um 1500 angewandte konventionelle Methode, sämtliche Notenwerte im Verhältnis 2:1 zu reduzieren, wird von einer interpretativen Methode abgelöst, bei der die Reduktionen flexibel gehandhabt werden können.

Da moderne Editionen grundsätzlich in Partiturform notieren, ist die Lesbarkeit mitunter gefährdet, wenn die Kompositionen keine Taktstriche oder sonstige Gliederungszeichen enthalten. Diese werden meist so ergänzt, dass eine Fehlinterpretation der Gliederungsstriche als Taktstriche ausgeschlossen ist. Als ähnlich problematisch wie das Ergänzen von Gliederungszeichen erweist sich die Akzidentiensetzung, da bislang ungeklärt ist, ob es hierfür zur Zeit der Entstehung der jeweiligen Kompositionen eine Normierung gab, oder ob es dem Ermessen des Aufführenden überlassen blieb, gegebenenfalls fehlende Akzidentien zu ergänzen. Aus diesen Problemen erwuchs die Forderung nach Faksimileausgaben, um so eine Transkription und die damit verbundenen Informationsverluste zu vermeiden. Damit jedoch würden die notwendigen Herausgeberentscheidungen lediglich auf den Benutzer abgewälzt. Eine mehrschichtige Edition, bei der sowohl eine Umschrift als auch ein Faksimile und gar noch eine von bereits im Faksimile enthaltenen Textproblemen bereinigte Fassung wiedergegeben werden könnten, scheiterte bislang wegen des großen Aufwandes in der Regel an ökonomischen Erwägungen, dürfte aber dank der Digitalisierung in Zukunft eher die Norm darstellen.

17. und 18. Jahrhundert

Für die Edition der Musik nach 1600 stellen sich andere Probleme: Die Schreiber der Partituren des 17. und 18. Jahrhunderts beschränkten sich häufig mehr oder weniger auf den reinen Notentext und bewerteten Dinge, die für den Musiker der damaligen Zeit selbstverständlich waren, als etwas Akzidentelles, das nicht eigens notiert werden musste. Hierzu gehören Verzierungen, Manieren, dynamische Zeichen und die Aussetzung des Generalbasses. Dieser, von Improvisation ausgefüllte Freiraum entzog sich der genauen Notierung nicht zuletzt auch deshalb, weil gerade die willkürlichen Veränderungen bei den Aufführungen gewünscht waren. Da – anders als vor 50 Jahren – heute wieder zahlreiche Musiker in der Lage sind, diese Freiräume selbständig improvisatorisch zu nutzen, wird in den neueren Ausgaben meist auf derartige Herausgeberergänzungen verzichtet. Insbesondere eine in Noten fixierte Generalbassaussetzung, die fälschlicherweise eine vorgegebene und feststehende Ausführung suggeriert, scheint heute überflüssig oder gar störend.

Editorische Probleme bereitet auch die ältere Partituranordnung, die häufig nicht der modernen entspricht. Hier ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen, tendenziell aber findet die originale Partituranordnung immer öfter Eingang in die Editionen, nicht zuletzt, weil sich diese oft als die praktikablere und übersichtlichere erweist. Auch die gängige Umschreibung von alten in neue Schlüssel kann zu Informationsverlusten führen. Problembehaftet ist zudem die Artikulation. Artikulationsbögen sind in den Quellen häufig sehr ungenau gesetzt, so dass kaum zu erkennen ist, bei welcher Note der Bogen beginnt und wo er endet. Eine diplomatisch getreue Übernahme in den modernen Notentext würde diesen häufig auf Schreibereigenheiten zurückgehenden Sachverhalt überbewerten, zumal aus den Quellen oft ersichtlich ist, dass die Bögen lediglich flüchtig gesetzt wurden und abweichenden Bogenlängen nicht unbedingt eine Bedeutung zukommt.

Da Werke des 17. und 18. Jahrhunderts bei Wiederaufführungen häufig den neuen Aufführungsgegebenheiten (wie etwa einer anderen Raumakustik, anders zusammengesetzten Orchestern oder unterschiedlichen Fähigkeiten der Sänger) angepasst werden mussten, liegen viele Werke in unterschiedlichen Fassungen vor. Während die Herausgeber im 19. Jahrhundert meist die unterschiedlichen Fassungen durch Auswahl der divergierenden Lesarten zu ideellen Fassungen kompilierten, wie sie in dieser Form nie existiert haben, versucht man inzwischen, die Fassungen nach Möglichkeit zu trennen und historisch zu bewerten. Dabei erweist es sich meist als unmöglich zu entscheiden, ob die Fassungsänderungen eine Verbesserung im Sinne der Autorintention darstellen, oder ob sie allein aus der notwendigen Anpassung an neue und veränderte kontextuelle Bedingungen entstanden. Wegen der Abhängigkeit der meisten musikalischen Werke von der jeweiligen Aufführungssituation sollte die späteste Fassung nicht grundsätzlich auch als die endgültige, im Sinne einer vom Autor in letzter Konsequenz so gewollten Fassung (Fassung letzter Hand) betrachtet werden. Da sich aufgrund der Untauglichkeit für den Musiker ein synoptischer Abdruck unterschiedlicher Fassungen in aller Regel verbietet, wurden abweichende Fassungen bislang hintereinander abgedruckt, was freilich die Vergleichbarkeit massiv erschwerte. Seit einigen Jahren ermöglicht ein Programm, das im Rahmen der digitalen Edition (Edirom) entwickelt worden ist, eine leichtere Vergleichbarkeit unterschiedlicher Fassungen.(3)

18. und 19. Jahrhundert

Bei der Musik des späten 18. und 19. Jahrhunderts stellt sich dieses Problem in einer abweichenden Form: Oft sind die Werke sowohl in einer autographen Urschrift (häufig nur in skizzierter Form) und in einer Reinschrift als auch in einer autorisierten Stichvorlage und einem Originaldruck überliefert; mitunter liegen zusätzlich abschriftliche und z. T. noch gedruckte Stimmen oder ferner sogar ein Klavierauszug vor. Dabei ist im Einzelnen kaum zu entscheiden, ob abweichende Lesarten auf den Autor selbst zurückgehen oder ob sie von den an der Erstellung des Werkmaterials beteiligten Schreibern bzw. Verlegern als notwendig betrachtet wurden. Daher ist es bis heute strittig, ob für eine Edition das Autograph oder aber der Originaldruck als maßgebliche Quelle zugrundegelegt werden sollte. Zudem suggeriert die Vielzahl von aufführungsrelevanten Zeichen (wie sehr differenzierte Dynamikzeichen, Tempo- und Metronomangaben, Artikulationszeichen und zusätzliche Textangaben), dass das Werk in (fast) allen wesentlichen Punkten fixiert ist. In Wirklichkeit aber wurden manche Konventionen im Notat selbst nicht berücksichtigt; zudem weisen gerade die präzisierenden Zeichen eine nicht unbeträchtliche Ungenauigkeit auf. Vor allem im Vergleich mit den unterschiedlichen Textschichten erweist sich das scheinbar Präzise als durchaus interpretationsbedürftig. Ein mehrfacher Abdruck der Varianten verbietet sich meist aus Gründen der Ökonomie.

20. Jahrhundert

Wiederum veränderte Probleme bietet die Musik des 20. Jahrhunderts: Nicht nur die Tatsache, dass die Notation häufig nicht mehr in der tradierten Schriftform erfolgt und viele Komponisten ihre eigenen Notationssysteme entwickelt haben, sondern auch die den Interpreten inzwischen wieder eingeräumten größeren Freiheiten, führten zu der Frage, ob und inwieweit der Editor ein bewusst als offenes Kunstwerk konzipiertes musikalisches Werk vervollständigen dürfe. Aus editorischer Sicht bestehen hier Analogien zur unvollständigen Notation älterer Musik. Anders als bei dieser liegen von neuer Musik aber u. U. auch Konzertmitschnitte unter der Leitung oder Mitwirkung des Komponisten vor, die Anregungen geben, wie die bewussten Freiräume gefüllt werden könnten, und die möglicherweise bei einer Edition Berücksichtigung finden müssten. Das Modell des „work in progress“ wurde u. a. von Charles Ives extrem in die Werkkonzeption einbezogen.

Da eine wie auch immer geartete Musikedition nicht auf Herausgeberentscheidungen verzichten kann, wäre es eine Illusion, von ihr einen endgültigen Notentext zu erwarten. Durch diakritische Zeichen und die Kritischen Berichte sollten jedoch die Herausgeberentscheidungen ausgewiesen und nachvollziehbar werden.

Digitale Edition

Einen neuen, zum Teil gänzlich anderen Weg geht die digitale Edition. Hier ist zu unterscheiden zwischen solchen Projekten, die lediglich eine traditionell erarbeitete Edition online veröffentlicht haben - wie etwa die Neue Mozart-Ausgabe(4), und solchen, die zu einer wirklichen digitalen Neuedition führen(5). Bei genuin digitalen Musikeditionen erweitert sich das Spektrum durch analytische Zielrichtungen oder die Integration diverser, einem automatisierten Zugriff zugänglicher Materialien. Unterschiedliche Lösungen bei der Codierung von Musik (MuseData, Hundrum, MusicXML, MEI) machten rasch deutlich, dass im editorischen Kontext besondere Anforderungen an die Erfassung von Phänomenen und die Datenstruktur (im Hinblick auf offene Schnittstellen) zu erfüllen sind. Inzwischen scheint es so, als habe sich in den letzten Jahren MEI als Codierungsstandard für die Wissenschaft etabliert, auch wenn die Suche nach alternativen Lösungen weitergeht.(6)


Auch wenn bislang aufgrund der Komplexität der Erstellung von MEI-Codierungen erst einige wenige Ausgaben (zumindest auch) digital publiziert worden sind, zeigen diese doch bereits das enorme Potential des neuen Mediums, da hier als Ergebnis weniger eine starr fixierte als vielmehr eine offene Edition angestrebt wird. Edirom etwa ermöglicht die taktweise Ansicht von ediertem Text und – wenn dies gewünscht ist – allen Quellen im Faksimile bzw. sofern diese in MEI erfasst sind, auch von deren Transkription. Da dies jedoch eine Lizenzvergabe der Besitzer dieser Handschriften/Drucke voraussetzt, werden wohl kaum alle Werke eines Komponisten derartig gut erschlossen werden können. Doch lässt sich im Idealfall jede Herausgeberentscheidung unmittelbar nachprüfen, was auch die Max-Reger-Werkausgabe(7) und das Opera-Projekt(8) veranlasste, einzelne Werke in Hybrid-Editionen vorzulegen, bei denen immerhin der Kritische Bericht sowie – bei Opera – eine im TEI-Standard erarbeitete kritische Libretto-Edition auf DVD verfügbar gemacht wird. Vollständig digitale Edition|digitale Editionen sind bislang außerhalb der alten Musik noch rar(9). Nicht nur bei diesen Ausgaben zeigt sich, dass mit der Digitalisierung auch Veränderungen der Methodik und vor allem eine Ausweitung der editorischen Aufgaben einhergehen(10), die in aller Regel von einem einzigen Editor kaum mehr zu leisten sein werden. Die Gründung eines Kompetenzzentrums im Jahre 2014(11) trägt dem Rechnung. Trotz aller Fortschritte bei der bei weitem noch nicht abgeschlossenen Entwicklung der digitalen Edition ist die von James Grier 1996 entworfene Vorstellung, dass die Musiker unmittelbar vom Laptop/Tablet musizieren würden, bislang Utopie geblieben. Zwar ist dergleichen möglich, doch findet die Lösung bei den Musikpraktikern noch keine wirkliche Akzeptanz.

Literatur

  • Apel, Willy, Accidentien und Tonalität in den Musikdenkmälern des 15. und 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 21972 (= Collection d´études musicologiques, 24). Werner Bittinger, Studien zur musikalischen Textkritik des mittelalterlichen Liedes, Würzburg 1953 (= Literatur-historische musikwissenschaftliche Abhandlungen 11).
  • Appel, Bernhard R. und Reinmar Emans (Hg.), Kompendium der Musikphilologie, Laaber 2017.
  • Appel, Bernhard R. und Joachim Veit, Editionsrichtlinien Musik, Kassel etc. 2000.
  • Bennwitz, Hanspeter u. a. (Hg.), Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, Kassel 1975.
  • Bente, Martin (Hg.), Musik. Edition. Interpretation. Gedenkschrift Günter Henle, München 1980.
  • Dadelsen, Georg von (Hg.), Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, Kassel 1967.
  • Emans, Reinmar (Hg.), Mit Fassung. Fassungsprobleme in Musik- und Text-Philologie. Helga Lühning zum 60. Geburtstag, Laaber 2007.
  • Emans, Reinmar und Ulrich Krämer (Hg.), Musikeditionen im Wandel der Geschichte (= Bausteine zur Geschichte der Edition 5), Berlin 2015.
  • Emans, Reinmar, Neue Darstellungsformen von Fassungen musikalischer Werke, in: Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft, hg. von Anne Bohnenkamp (= Beihefte zu editio, 35), Berlin/Boston 2013, S. 129–139.
  • Emery, Walter, Editions and Musicians. A Survey of the Duties of Practical Musicians & Editors Towards the Classics, London 1957.
  • Feder, Georg, Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987.
  • Georgiades, Thrasybulos G. (Hg.), Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewußtseins, Kassel 1971.
  • Georgiades, Thrasybulos G., Musik und Schrift, München 1962.
  • Grier, James, The Critical Editing of Music, Cambridge 1996.
  • Kepper, Johannes, Musikedition im Zeichen neuer Medien. Historische Entwicklung und gegenwärtige Perspektiven musikalischer Gesamtausgaben (= Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 5), Norderstedt 2011.
  • Kraft, Herbert, Editionsphilologie, Darmstadt 1990.
  • Krämer, Ulrich, Armin Raab, Ullrich Scheideler und Michael Struck (Hg.), Das Autograph – Fluch und Segen. Probleme und Chancen für die musikwissenschaftliche Edition. Bericht über die Tagung der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, 19.–21. April 2013 (= Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2014), Mainz 2015.
  • Lühning, Helga (Hg.), Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis (= Beihefte zu editio, Bd. 17), Tübingen 2002.
  • Mies, Paul, Textkritische Untersuchungen bei Beethoven, Bonn 1957 (= Schriften zur Beethovenforschung, 2).
  • Stadler, Peter und Joachim Veit (Hg.), Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung (= Beihefte zu editio), Tübingen 2009.
  • Tyson, Alan, The Authentic English Editions of Beethoven, London 1963.
  • Unverricht, Hubert, Die Eigenschriften und die Originalausgaben von Werken Beethovens in ihrer Bedeutung für die moderne Textkritik, Kassel 1960 (= Musikwissenschaftliche Arbeiten 17).

Referenzen

(1) Zu den Denkmälerausgaben siehe: Wolfgang Horn, Denkmälerausgaben, in: Musikeditionen im Wandel der Geschichte, hg. von Reinmar Emans und Ulrich Krämer (= Bausteine zur Geschichte der Edition 5), Berlin 2015, S. 704–741.
(2) Beispielsweise bei dem Projekt „Beethovens Werkstatt. Genetische Textkritik und digitale Musikedition“ unter der Leitung von Bernhard Appel und Joachim Veit. siehe http://beethovens-werkstatt.de/.
(3) Reinmar Emans, Neue Darstellungsformen von Fassungen musikalischer Werke, in: Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft, hg. von Anne Bohnenkamp (= Beihefte zu editio, 35), Berlin/Boston 2013, S. 129–139.
(4) Online http://dme.mozarteum.at/DME/nma/start.php?l=.
(5) Digital Mozart Edition unter http://dme.mozarteum.at/DME/main/index.php?l].
(6) siehe etwa MUSIC NOTATION COMMUNITY GROUP unter https://www.w3.org/community/music-notation/.
(7) Reger-Werkausgabe (RWA) unter http://www.max-reger-institut.de/de/reger-werkausgabe/reger-werkausgabe.
(8) OPERA - Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen unter http://www.opera.adwmainz.de/beschreibung.html.
(9) Siehe etwa Digitale Musikwissenschaft Österreich unter http://www.digital-musicology.at/de-at/, Freischütz Digital unter http://www.freischuetz-digital.de/ oder Sarti Edition unter http://sarti-edition.de/.
(10) Edirom Digitale Musikedition unter http://www.edirom.de/edirom-projekt/digitale-musikedition/stimmen/kepper-digitale-musikedition-eine-begriffsbestimmung/ bzw. Beethovens Werkstatt Digitale Musikedition unter http://www.beethovens-werkstatt.de/glossary/digitale-edition.
(11) ZEN|M|E|M Zentrum Musik Edition Medien unter http://zenmem.de/confluence/.


esr