Philosophische Edition

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Philosophische Edition ist die Edition von Texten, die von Philosophen verfasst sind. Philosophische Edition beschäftigt sich mit solchen Texten und deren Kontexten in all ihren literarischen und technischen Formen: von der monographischen Abhandlung über Vorlesungen und Nachschriften bis hin zum Briefwechsel. Das ist zugleich eine Problemanzeige. Diese Texte sind nicht gleich in jedem Fall auch schon im engen Sinne philosophische Texte. Die philosophische Edition erfordert philosophische Textkritik.

Explikation

Was ein philosophischer Text ist, wird textkritisch am Gegenstand expliziert und innerhalb des Fachs diskutiert. Philosophische Texte sind über einen langen Zeitraum ihrer Geschichte die eigentlich umfassend wissenschaftlichen, d. h. nicht-theologischen, nicht-juristischen Texte gewesen. Der Anspruch an die Edition philosophischer Texte bleibt von der historisch-kritischen bis hin zur Studienausgabe gleich hoch. Philosophische Edition muss fachwissenschaftliche, nicht nur im engeren Sinn philosophische, Anforderungen erfüllen. Sie muss editionswissenschaftlichen Standards genügen. Die philosophische Edition steht in dieser Hinsicht unter denselben Bedingungen und Anforderungen wie jede andere Editionsform. Ihre Technik ist im weitesten Sinne philologisch, ihre Methode im weitesten Sinne hermeneutisch. Darüber hinaus steht sie unter den spezifischen Anforderungen der an sie gestellten philosophischen, historischen wie systematischen Fragen. Deswegen kennt sie mindestens drei Motive und Anstöße: das historische Interesse an der Geschichte der Philosophie, das systematische Interesse an den Problemen der Philosophie, das historisch-systematische Interesse an der Problemgeschichte der Philosophie. In der philosophischen Erwartung an Editionen sind systematische mit historischen Motiven verwoben. Dies ist der Standardfall philosophischen Arbeitens und Edierens nach den großen Erzählungen der Philosophie, die mit Hegel endeten. Philosophische Editionen zeigen in ihrer Praxis, dass es ein Vorurteil des 19. Jahrhunderts ist zu unterstellen, Philosophen hätten ein überzeitliches, voraussetzungsloses ‚System‘. Für den philosophischen Editor bedeutet das, unabhängig von den spezifischen Bedingungen des gewählten Editionsgegenstandes oder Autors und dessen Zeitstellung den Aufbau der geschichtlichen Welt kennen zu müssen. Das umfasst die Institutionengeschichte der Philosophie, die Philosophiegeschichte, die Geschichte philosophischer Probleme, die nicht nur philosophische Begriffsgeschichte. Außerdem gehört dazu die allgemeine Geistes- und politische Geschichte, die Religions-, Kunst-, Literatur- und Geschichte der Wissenschaften, inklusive sämtlicher zugehörigen Quellengattungen. Dazu tritt ein solides Rüstzeug in den historischen Hilfswissenschaften und der Archivkunde, der wissenschaftlichen Bibliografie und Biografie sowie der alten und modernen Sprachen. Editoren der Philosophie müssen nicht zwangsläufig Philosophen sein. Das zeigt bereits die Geschichte der neueren philosophischen Editionen, die mit altphilologischen Forschungsinteressen begann (Immanuel Bekkers Aristoteles-Ausgabe 1831–1870). Nicht zuletzt eine editionswissenschaftliche oder neugermanistische Ausbildung kommt in Betracht. Die im vorigen skizzierten philosophischen Kenntnisse müssen allerdings vorausgesetzt bleiben.

Forschungsbericht

Obgleich jede originäre Philosophie keine Textwissenschaft sein will, ist jedes Philosophieren auf Texte angewiesen. Soweit Interpretation die Formulierung und Reformulierung philosophischer Fragen und Probleme meint, ist diese Form der Interpretation bzw. Forschung kein Bestandteil einer philosophischen Edition. Diese liefert allerdings das Material zu einer in diesem Sinne philosophischen Interpretation. Edition ist aber Interpretation durch die historisch- und philosophisch-kritische Entscheidung an den überlieferten Texten. In jeder Emendation, Konjektur und jedem historisch-systematischem Kommentar eines philosophischen Textes, die oftmals erst den Text herstellen helfen, liegt ein Akt der –– Interpretation zugrunde. Diese ist prinzipiell wissenschaftlich, d. h. intersubjektiv überprüfbar. Diese Interpretation ist aber auch philosophisch in dem Sinne, dass sie die Kontexte philosophischer Texte zum Zwecke ihres Verständnisses liefert. Diese ideale Interpretationsabsicht wird empirisch kaum je erreicht und ist Gegenstand der fachlichen Auseinandersetzung. Die Abgrenzung der philosophischen Edition zur neugermanistischen Edition ist fließend, jedoch ein Unterschied, der textkritisch entschieden wird. Philosophische Texte sind das Gebiet der philosophischen Edition, aber es gibt durchaus fruchtbare Kompetenzüberschneidungen. Das gilt z. B. für solche Autoren wie Goethe oder Schiller, aber auch, in anderer interdisziplinärer Hinsicht, für Universalgelehrte wie Leibniz. Philosophische Edition äußert sich ganz wesentlich in dem Einsatz von Kommentaren. Diese Kommentare bieten jedoch i. d. R. keine inhaltlichen Interpretationen. Dafür gibt es im Fach Philosophie eine eigene Literaturgattung der Textkommentare, v. a. zu kanonischen Werken wie z. B. Kants Kritik der reinen Vernunft. Im Unterschied dazu dienen Kommentare in philosophischen edierten Texten der Rekontextuierung des darin Gesagten. Es geht um Zitatnachweise, Auflösung von Anspielungen und historischen Referenzen sowie um den Nachweis von Lesarten. Auch Lese- und Studienausgaben bedürfen dieser Form von Kommentar, wobei es keinen wesentlichen Unterschied macht, ob diese Kommentare den Texten vorangestellt werden (etwa einleitend), oder mit Stellennachweis am Textrand in Form von Anmerkungen mitlaufen. Das editorische Interpretationsideal will einen Text bereitstellen, der in einen aktualen philosophischen Nachvollzug umgesetzt werden kann. Dieser Nachvollzug bleibt in seiner Zeitgebundenheit und Interessenabhängigkeit auf eine gewisse Weise wiederholbar, in anderer Hinsicht jedoch singulär. Das Qualitätskriterium der [philosophische Edition|philosophisch-editorischen Edition]], neben der Forderung ihrer Fertigstellung in der Lebenspanne der Wissenschaftsgeneration, für die sie gemacht wird, liegt darin, sich ihrerseits ihrer historischen Gebundenheit bewusst zu sein. Das Geschriebene wird immer wieder neu gelesen. Das gilt im doppelten Sinne vom edierten ‚Urtext‘ wie von der jeweiligen Edition selbst mit all ihren erläuternden Apparaten. Philosophische Edition stellt den jeweils derzeitig erreichbaren Wissenstand von und über einen philosophischen Text dar. Sie ist im Prinzip jederzeit reversibel in dem Sinne, dass ihre Eingriffe gekennzeichnet werden und sichtbar bleiben. Ältere Editionen im philosophischen Feld war nicht davor geschützt, mit den philosophischen Ansichten ihrer Editoren kontaminierte Texte zu liefern, die in Neueditionen erkannt und rückgeführt werden müssen. Die Revision des bereits Edierten gehört damit sowohl zur Geschichte als auch zur Philosophie der philosophischen Editionen. Sie sorgt einerseits für eine nicht ganz unproblematische Verfestigung, auf der anderen Seite für eine Kontinuität philosophischen Fragens. Autoren werden, wenn sie erst einmal im Kanon sind, immer wieder ediert. Die Geschichte der philosophischen Editionen beginnt z. B. nicht nur mit den Aristoteles-Editionen des Mittelalters oder den Platon-Forschungen der Renaissance, sondern sie wiederholt auch die älteren Aristoteles- oder Platon-Editionen (die Vorsokratiker-Sammlungen, die Kant-, Hegel-, Schopenhauer-, Wittgenstein-, Nietzsche-Editionen usw.) im Laufe ihrer Geschichte immer wieder, um sie aufs neue philosophisch aneignen zu können und zu philosophischer Kenntnis zu bringen. Es ist auf der anderen Seite sehr viel schwieriger, einen Autor neu in den Kanon einzubringen. Philosophische Editionen können ihren Autoren höchstens einen Platz in der Philosophiegeschichte sichern. Eine mögliche Klassizität, wie das der Berliner Akademieausgabe musterhaft für Kant gelungen ist, lässt sich nicht präjudizieren. Eine Anlehnung an die Gestalt klassischer Ausgaben, wie das z. B. die Hegel-Ausgabe der gesammelten Werke mit ihrer Orientierung an der Berliner Kantausgabe vormacht, kann vielleicht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, zur klassischen und damit maßgebenden Referenzausgabe zu werden. Dieses Verfahren wird sich aber nicht für jeden Autor empfehlen und scheitert allzu leicht an dem fehlenden Willen der Geldgeber, für Autoren des zweiten oder dritten Ranges vergleichbare Summen aufzubringen. Umgekehrt wird aber derjenige Autor bzw. werden Ausgaben eines Autors, dessen Werke günstig im Buchhandel angeboten werden, in Forschung und Lehre viel leichter rezipiert als schwerfällige und teure Gesamtausgaben. Philosophische Edition teilt dieses Problem mit allen Formen von Editionen. Es gibt in der Regel erstens die Konkurrenz der bereits im Umlauf befindlichen Ausgaben und zweitens die Konkurrenz günstiger Ausgaben. Ein Argument gegen Editionen ist das nirgends – vielmehr ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Umgang mit Editionen gelernt und gelehrt werden muss. Das sind wenigstens z. T. die Gründe, weswegen es die großen klassischen Akademieprojekte forschungspolitisch zunehmend schwerer haben, sich als Langfristprojekte gegenüber der Knappheit der Mittel durchzusetzen. Kompensiert wird das durch das an Akademien angesiedelte konzentrierte Vorantreiben digitaler Editionstechniken und Editionsformen. Auf der anderen Seite, und dies oft in Einzelprojekten an Universitäten bis hin zu solchen in Privathand, geraten zunehmend die Ephemera früherer am Ideal des Werkes orientierter Editionen in den Fokus des Edierens. Das bedeutet eine Beschäftigung mit Forschungsgrundlagen wie Briefen, Vorlesungsmanuskripten, Vorträgen, Nachschriften, Protokollen, Lebensdokumenten etc. Es gibt einen beobachtbaren editionswissenschaftlichen Trend von der Werkedition eines Autors hin zu seiner Wirkungsedition. Die philosophische Edition ist Erbin einer langen Tradition, die nicht nur theologisch oder philologisch, sondern eben auch philosophisch ist. Die Geschichte der philosophischen Terminologie bzw. das historische Wörterbuch der Philosophie gehört zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Jede philosophische Edition erinnert an vergessene Autoren, bringt bekannte neu zur Geltung und schließt andere, nichtedierte Autoren aus. Darin spiegeln sich die jeweils herrschenden philosophischen Interessen und Desinteressen, wie auch die jeweiligen äußeren Bedingungen der Finanzierung von Editionsvorhaben. Manche Autoren, wie z. B. Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl, Ernst Cassirer, Friedrich Nietzsche, sind überhaupt nur wegen oder zumindest zu einem großen Teil wegen der Edition ihrer nachgelassenen und unpublizierten Werke Teil des Kanons. Philosophische Editionen haben somit einen nicht geringen Anteil an der Bildung eines Kanons philosophischer Autoren und Klassiker. Sie bringen durch die Edition bestimmter Autoren und Texte und der in Kommentaren dargebotenen Kontexte nicht zuletzt neue Themen in die Philosophie ein. Die editorische Betreuung der Philosophiegeschichte zeigt diese als Geschichte der Aneignung. Es ist ein Kurzschluss zu denken, jedes historisch-systematische Bemühen bedeute letztlich das Ende der Systematik, jedes historisch-kritische Unterfangen das Ende der Kritik, ebenso wenig, wie die Geschichte der Philosophie das Ende der Philosophie bedeutet. Die Entdeckung der Geschichte einer Tatsache bedeutet hier wie überall schließlich nicht ihre Auflösung, sondern lediglich die Entdeckung ihrer Geschichtlichkeit. Wo allerdings Philosophie fortan unter dem Vorzeichen des bereits Gedachten und Vorgedachten steht und stehen muss, d. h. unter dem Vorzeichen ihrer Geschichtlichkeit, da sind Geschichte der Philosophie und philosophische Edition die nächsten Partner der philosophisch-systematischen Weiterarbeit. Dies ganz abgesehen davon, dass Philosophen und Philosophinnen seit jeher an ihren Vorgängern informiert und orientiert waren. Die Edition von Philosophie legt im besonderen Maße die Kategorie des möglichen Wissens und die Erschließungswege dieses möglichen Wissens frei, indem sie die Syntax und Semantik der Philosophie historisiert und die Forschung an Texten und ausgehend von Texten auf eine insoweit festgestellte Grundlage führt.

Siehe auch

Literatur

  • Erbacher, Christian: ‚Gute‘ philosophische Gründe für ‚schlechte‘ Editionsphilologie. Zur Philosophischen Grammatik von Ludwig Wittgenstein und Rush Rhees damals und heute. In: Martin Endres, Axel Pichler, Claus Zittel: Textologie. Theorie und Praxis interdisziplinärer Textforschung. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 257–297.
  • Gerhardt, Volker, Jacqueline Karl, Andrea Marlen Esser: Ein großes Werk zum Abschluss bringen [zur Akademie-Ausgabe Kant]. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014), S. 27–40.
  • Jaeschke, Walter: Vom Nutzen und Nachteil der Edition für die Philosophie. In: editio 23 (2009), S. 169–175.
  • Jaeschke, Walter, Christoph J. Bauer: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Das Editionsprojekt der Gesammelten Werke. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014), S. 41–63.
  • Jaeschke, Walter, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings, Heinrich Schepers (Hg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen): Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Hamburg: Meiner 1987.
  • Jaeschke, Walter, Birgit Sandkaulen: Friedrich Heinrich Jacobi – Werke und Briefwechsel. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64 (2016), S. 978–989.
  • Kliege-Biller, Herma, Stephan Meier-Oeser, Stephan Waldhoff: Einen barocken Universalgelehrten edieren: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64 (2016), S. 951–977.
  • Kluxen, Wolfgang: Der Geist lebt vom Buchstaben. Über Texte und Texteditionen als Träger geschichtlicher Kontinuität der Philosophie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), Heft 3, S. 7–19.
  • Köhnke, Klaus Christian: Editorische Bemühungen um die Philosophie des 19. Jahrhunderts. In: editio 5 (1991), S. 163–172.
  • Lessing, Hans-Ulrich: Vollständigkeitsprinzip und Redundanz. Überlegungen am Beispiel der Edition der Nachschriften von Diltheys systematischen Vorlesungen. In: editio 3 (1989), S. 18–27.
  • Sell, Annette (Hg.): Editionen – Wandel und Wirkung. Tübingen: Niemeyer 2007 (Beihefte zu editio Bd. 25).
  • Senger, Hans Gerhard (Hg.): Philologie und Philosophie. Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio Bd. 11).
  • Senger, Hans-Gerhard (Hg.): Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Tübingen: Niemeyer 1994 (Beihefte zu editio Bd. 6).
  • Stern, Martin (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Autor- und werkbezogene Referate. Tübingen: Niemeyer 1991 (Beihefte zu editio Bd. 1).
  • Zerbst, Arne: Die Kommission zur Herausgabe der Schriften von Schelling. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014), S. 64–73.
  • Zittel, Claus: Zur Kritik der „editorischen Vernunft“. Textologie und philosophische Edition. In: Martin Endres, Axel Pichler, Claus Zittel: Textologie. Theorie und Praxis interdisziplinärer Textforschung. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 7–45.

Webressourcen

Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen in der Deutschen Gesellschaft für Philosophie: http://dgphil.de/verbaende-und-ags/ag-philosophischer-editionen/

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